Alt und neu

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Es gibt einige Vorteile daran, tot zu sein, und durch Wände gehen zu können, gehört eindeutig dazu. Fairerweise muss ich aber sagen: Heute hätte ich es gar nicht gebraucht. Ich hätte auch einfach den Vordereingang benutzen können, aber wo bliebe denn da der Spaß.

Also trete ich stattdessen durch den Vorhang auf die Bühne und mustere die Leute, die gespannt zu mir schauen. Ja, sie wissen nicht, dass ich da bin, aber für einen Moment tue ich so.

Kyle tritt neben mir durch die Wand, wirft aber im Gegensatz zu mir keinen Blick ins Publikum, sondern auf die große Leinwand hinter uns. „Ich finde es immer noch seltsam, dass es irgendjemanden gibt, der Horrorfilme mag."

„Umso besser für uns." Ich grinse diabolisch. Meine Fähigkeiten haben sich deutlich verbessert in den letzten Monaten. Wenn man Kyle glauben kann, bringe ich sogar gelegentlich ein rotes Glühen in meine Augen.

Wir stehen heute vor einer Gruppenaufgabe. Etwa sechzig Leute haben sich zusammengefunden, um sich in der Nachtvorstellung eines Kinos zu gruseln. Und gruseln werden sie sich.

Passend zu diesem Gedanken gehen die Lichter in dem Saal aus. „Ist Theresa schon in Position?", flüstere ich Kyle zu, während wir die Bühne heruntergehen. Er nickt.

Es ist nicht immer leicht, sie aus den Augen zu lassen, wenn man nicht weiß, welchen Gegenstand sie als ihr nächstes temporäres Zuhause auserwählen wird. Generell ist die Kommunikation mit ihr nicht immer leicht, aber wir arbeiten daran. Immerhin hat sie mittlerweile verstanden, dass es nicht die beste Methode ist, jemanden auf den Boden zu stoßen und ihn auf Echoart anzuschreien, um eine Warnung auszusprechen.

Die Leinwand fährt mit einem Surren in die richtige Position.

„Showtime", flüstere ich und Kyle grinst.

Zuerst allerdings tun wir gar nicht viel, sondern schauen uns den Film an. Ein Kind mit Visionen, das in der Geisterwelt von einem Monster gefangen gehalten wird – „Oh, das ist aber doch schrottig", entfährt es mir an einem Punkt.

Kyle dreht den Kopf widerwillig zu mir. Er kann es nicht leiden, wenn jemand während einem Film spricht – auch, wenn er keine Horrorfilme mag.

„Er hängt sich über das Kind an die Decke?", empöre ich mich im Flüsterton, während die rotschwarze Fratze auf der Leinwand aufblitzt. „Was macht er da den ganzen Tag? Sich zu Tode langweilen und hoffen, dass ihn jemand findet?"

An sich ist die Idee aber ganz nett. Ich lasse den Blick über das Publikum schweifen. Da. Ein blässlicher junger Mann, der den Eindruck macht, seine Abendentscheidungen gründlich zu bereuen.

Ich erhebe mich über die Menge, während sich mein Äußeres verändert. Bye bye, Kapuzenpulli und Jeans. Hallo, langes schwarzes Seidenkleid und dazu passende Frisur.

Ich warte den richtigen Moment ab ... und der junge Mann schaut nach oben, um dem Filmgeschehen zu entkommen. Direkt in meine Geisterfratze, die ich in dem Moment sichtbar mache.

Er fährt so heftig zusammen, dass sich sein Popcorn großzügig auf seinem Schoß verteilt.

Ich grinse und ziehe mich vorerst zurück. Dieses Sichtbarmachen ist extrem anstrengend, aber immerhin erscheine ich nicht mehr nur als Nebelgestalt.

Von der Versuchung, in ein ganz bestimmtes Haus zu gehen und mich dessen Einwohnern zu zeigen, muss ich mich selbst manchmal entschieden zurückhalten. Aber ich werde nicht nachgeben. Von einer solchen Begegnung hätte niemand etwas zu gewinnen.

Jemand in den hinteren Reihen steht auf. Ein Toilettengang mitten im Film? Das geht gar nicht. Ich verriegele die Tür.

Der Kinobesucher versucht es eine Weile erfolglos und dreht sich dann ratlos weg. Im Film betritt die Mutter das Schlafzimmer ihres Kinds. Ein dunkler Schemen hält sich in den Vorhängen verborgen und beobachtet das Kind.

In MemoriamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt