Die Welt um mich herum kollabiert. Ich bin mir sehr sicher, dass Sinas Bruder mich nicht sehen kann, aber etwas spürt er, da bin ich mir ebenfalls sehr sicher. Denn mir geht es genauso. Da ist etwas, das mich in tiefere Abgründe zieht, als ich jemals ergründet habe, etwas, das mich an Ort und Stelle fesselt.
Der ganze Raum verdichtet sich, zoomt auf das Gesicht, von dem ich mir sicher bin, dass es mir in meinem Geisterdasein noch nie begegnet ist. Und von dem ich gleichzeitig weiß, dass ich es in meinem Leben davor unzählige Male gesehen habe, dass mir jeder Zentimeter davon unendlich vertraut ist und dass ein Teil meines Selbst an diesen Zügen hing.
Dann werde ich rücklings aus dem Raum katapultiert. Die Wände stellen kein Hindernis für mich dar, ich fliege einfach hindurch und in den Vorgarten. Der Aufprall hätte die Luft aus meiner Lunge entweichen lassen, wenn ich noch am Leben gewesen wäre. Ein wenig tut er das sogar, auch wenn ich keine Schmerzen fühle.
Der dumpfe Schlag kann ohnehin nicht damit mithalten, was ich gerade in mir losgetreten habe. Oder was das Gesicht von Sinas Bruder in mir losgetreten hat.
Mit einem Aufwallen von Trotz rappele ich mich auf. Irgendein Teil von mir hat etwas gegen meine Anwesenheit bei den beiden? Wir werden ja sehen, wer gewinnt. Solange der Himmel dunkel und von Leif nichts zu sehen ist, kann ich schließlich tun und lassen, was ich will.
Also trete ich zurück in das Haus, stürme die Treppen eher hinauf, als dass ich schleiche, und stehe bald wieder in Sinas Zimmer. Nichts deutet auf meine Anwesenheit hin – weder die aktuelle noch die vergangene.
„– dich über mich lustig machen, wenn du willst", sagt Sina gerade scharf und der Hauch eines Zitterns liegt noch in ihrer Stimme. 1:0 für mich, verbuche ich mir unter einem imaginären Konto.
Ihr Bruder steht neben ihr und mustert den Raum skeptisch. Er macht keine Anstalten, auf Sinas Bemerkung einzugehen.
Dieses Mal wandert sein Blick über mich hinweg. Aber mich trifft ein Anflug des gleichen Gefühls. Als wäre ich frontal von einem LKW erwischt worden.
Ich kenne die graublauen Augen und die hellbraunen Haare, die ihm gerade noch so nicht in die Augen fallen. Ich erinnere mich an die Grübchen, die er beim Lächeln bekommt, auch wenn ihm danach gerade offensichtlich nicht zumute ist. Wer war er für mich?
„Kurz dachte ich –", beginnt er, dann bricht er wieder ab. Falten erscheinen auf seiner Stirn. Auch daran erinnere ich mich. Dass er die Augenbrauen hoch zieht, nicht zusammen, wenn er nachdenkt.
„Was?", fragt Sina tonlos nach. „Was dachtest du, Noah?"
Noah. Der Name löst nicht das gleiche Gefühl des Wiedererkennens in mir aus, aber er verbindet sich mit mir und ihm, als würde ein Puzzleteil an seinen ursprünglichen Platz fallen. Noah.
Aber er schüttelt sich jetzt nur und wendet sich ab. „Nichts. Vergiss es."
Noah wendet sich ruckartig ab und lässt seine Schwester in der Mitte ihres Zimmers stehen. Die Tür schließt er hinter sich.
Sina verharrt regungslos. Sie macht keine Anstalten, Noah zu folgen. Als ich mich nähere, sehe ich im Mondlicht blassblaue Tränen in ihren Augen glitzern. Überrascht blinzele ich. Das passt nicht.
Von mir aus könnte sie vor Schreck und Angst vor dem Poltergeist in ihrem Haus erstarrt sein ... aber ... das? Wieso sollte Sina weinen?
Langsam fährt sie sich mit der Hand durch die blonden Haare, dann übers Gesicht. „Bist du noch da?", flüstert sie in den leeren Raum. Und ich ... ja. Ich bin zu verwirrt, um zu reagieren. Vielleicht hätte ich eine Vase herunterstoßen sollen wie eine Katze, aber ich soll ja auch keine definitiven Belege meiner Existenz geben. Glaube ich.
„Nein", flüstere ich dann als Antwort. „Heute nicht mehr." Aber ich werde ganz sicher wiederkommen.
Und zwar mit Verstärkung. Mit jemandem, der mit den Lebenden kommunizieren kann.
Blöd nur für mich, dass sich das Dröhnen des Taxis nähert. Sina kriecht langsam wieder in ihr Bett, während ich ihr noch einen letzten Blick zuwerfe und dann aus dem Fenster trete.
Immerhin komme ich dieses Mal eleganter auf dem Gras des Vorgartens auf als beim letzten Mal. Diese Erfahrung müsste ich wirklich nicht wiederholen.
Das Weiß des Taxis sticht mir in den Augen, als es um die Ecke biegt, und ich beiße die Zähne zusammen. Ich werde mich nicht wehren, wenn es mich morgen Nacht wieder abholen kommt. Aber für den Moment muss ich unbedingt mit Kyle sprechen.
Das hat zur Konsequenz, dass ich ganz buchstäblich den Gartenzaun umklammere, als das Taxi sich nähert. Die Taktik hat mir schon einmal geholfen, wieso sollte es kein zweites Mal funktionieren? Dass mich das letzte Mal nur Theresa davor bewahrt hat, einzusteigen, ignoriere ich bei dieser Argumentation.
Allmählich schwingt die Tür des Taxis auf. Irritierenderweise scheint es von hier aus leer zu sein, ein Maul, das sich auftut, mich zu verschlingen.
Das bekannte Gefühl des Ankerhakens gräbt sich in meinen Bauch und zieht. Ich beiße die Zähne zusammen. Der Himmel hat sich im Osten schon orange verfärbt, die Sonne wird jeden Moment aufgehen.
Meine einzige, verzweifelte Hoffnung ist es, dass ich dann nach Hause gehen und das Taxi mir nicht folgen kann. Ich muss mit Kyle sprechen.
Aber es tut weh.
Der Zug in meinem Bauch ist schmerzhaft und sogar meine Geisterknöchel werden weiß, so fest umklammere ich den Gartenzaun. „Du musst dorthin gehen, wohin du musst", glaube ich, Leifs Stimme zu hören. „Du hast keine Wahl."
„Ich muss nach Hause", stoße ich durch zusammengebissene Zähne hervor. „Sonst nirgendwo hin."
„Du hast keine Wahl."
Ein Stöhnen dringt über meine Lippen, aber ich wende meine gesamte Energie darauf auf, meine Verbindung zur Welt der Lebenden nicht zu verlieren, nicht nachzugeben und nicht in das Taxi einzusteigen. Ich weigere mich, Leif diese Kontrolle über mich zu geben. Wenn er meine Nächte schon kontrolliert, soll er die Tage nicht auch noch haben.
Die Sonne geht auf.
Goldene Strahlen streifen meine Haut, als hätte ich unter Wasser eine warme Strömung gefunden. Ich müsste mich jetzt auflösen. In Gedanken suche ich nach dem Weg, den ich sonst ohne Mühe finde, den Weg nach Hause, zu dem Ort außerhalb der Zeit.
„Du hast keine Wahl, Miriam." Leif klingt unverändert freundlich.
Das Holz schneidet in meine Geisterhände ein.
„Warte es nur ab." Wahrscheinlich sind meine Worte unverständlich, aber es ist mir egal. Ich werde nicht nachgeben. „Lass. Mich. Gehen."
Das Ziehen lässt nach. Nur eine Winzigkeit und ich umklammere den Gartenzaun noch fester, weil ich Angst habe, dass es gleich mit größerer Heftigkeit zurückkommt.
„Das ist manchmal eine gute Idee", haucht Leif.
Die Blockade verschwindet. Als wäre ein Korken aus einer Flasche gezogen worden, ist der Weg für mich plötzlich wieder vollkommen klar. Bevor ich den Gedanken ‚Das war jetzt aber doch zu einfach' fertig ausformulieren kann, löse ich mich auf.
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In Memoriam
ParanormalMiriam ist tot. Eigentlich hat sie sich mit diesem Schicksal abgefunden, denn als Poltergeist ist sie zweifellos talentiert. Wäre da nicht die Legende von einem Taxi, das einen nicht dorthin bringt, wohin man möchte, sondern dahin, wohin man muss...