Vom Lügen und Angelogenwerden

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Was bist du eigentlich. Nicht meine höflichste Frage, ich gebe es zu.

„Wir haben bereits viel geredet", wiegelt Leif ab. Natürlich, wie hatte ich mich auch der Illusion hingeben können, möglicherweise Antworten von ihm zu bekommen. Ich Idiot.

Der Himmel draußen wird immer dunkler und ich fahre die Fensterscheibe wieder hoch. Leif zeigt sich unbeeindruckt davon. Er hat den Blick wieder unverwandt auf die Straße gerichtet.

„Ich habe ein Echo gesehen", sage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Begegnung hatte ich beinahe schon verdrängt, aber die aufziehende Dunkelheit draußen hat sie mir wieder ins Gedächtnis gerufen.

Leif seufzt und etwas flackert in seinem Blick auf, das ich nicht auf Anhieb deuten kann. „Und das macht dir Sorgen?"

Ich stutze. „Natürlich macht es das! Die ganzen Horrorgeschichten, die sich die Menschen erzählen? Die Geschichten von ... von ... von wahnsinnigen Puppen und Gegenständen, die ein Eigenleben entwickeln und nachts Leute umbringen? Echos!"

„Ich bin mir sicher, herabfallende Gemälde, plötzlich aufklappende Spieluhren und Kreuze, die sich plötzlich auf den Kopf drehen, haben absolut gar nichts damit zu tun."

Ich schüttele nur den Kopf. „Poltergeister würden den Menschen niemals Schaden zufügen. Das können wir gar nicht."

Der Wald, durch den wir jetzt fahren, sieht nicht gesund aus, die Zweige der Bäume nur noch Skelette, die verkrümmt ihrem Untergang trotzen. Ich reiße meinen Blick von der zunehmend düsteren Umgebung und betrachte stattdessen meine Hände.

„Wissen das die Menschen auch?", fragt Leif. „Ich hatte es bisher immer so verstanden, dass ihr von eurer gegenseitigen Arbeit profitiert. Du hast mit deinem Poltergeistdasein nur Erfolg, weil die Menschen Angst haben, ihnen könnte etwas passieren. Die Echos sind der Grund dafür, dass ihnen tatsächlich etwas passiert."

Ich möchte nichts erwidern. Leif hat recht. Aber ich will, dass das Echo, das ich gesehen habe, sich von Sina und Noah fernhält.

„Warum kümmern dich die beiden?", fragt Leif, der wahrscheinlich an meinem Gesicht abgelesen hat, was ich denke.

Er hat sich wieder zu mir umgewandt. Die Hände hält er noch am Lenkrad, aber sein unscheinbares Gesicht ist auf mich gerichtet. Das Taxi gleitet weiterhin sicher durch die Kurven, aber ich will nicht nach draußen sehen.

„Ich ..." Ich suche vergeblich nach einer Antwort.

„Du bist tot, Miriam. Du kannst ihr Leben nicht mehr beeinflussen. Du solltest loslassen."

Da ist ein Unterton in Leifs Stimme, der mir ganz und gar nicht gefällt. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, dass er sein Gesicht wieder der Straße zuwendet.

„Aber ich bin so nah dran. Dank ihnen", flüstere ich.

„Nah woran?"

„An dem, was war. Ich möchte wissen, wer ich war."

„Warum solltest du das verderben wollen, das du bist?"

„Weil ich nicht immer eine Hülle war", murmele ich. „Sie sind ein Teil von mir. Ich muss ..."

Jetzt fällt mir auf, dass Leif lächelt. Beinahe väterlich. Freundlich. „Ist es das, worum es dir geht?", frage ich scharf. „Dass ich genau das erkenne? Und ... habe ich gerade deine Aufgabe erfüllt?"

Leif hat sich wieder von mir abgewandt, das Lächeln noch auf seinem Gesicht. „Du wirst die Antwort noch finden. Bald."

Das ist etwas Gutes, richtig? Richtig?

In MemoriamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt