Es hätten mich Fäden ziehen können, so wenig steuere ich meine Bewegungen, als ich Noah folge, direkt durch die Tür, die er gerade hinter sich zugezogen hat.
Sein Zimmer ist gegenüber von Sinas, auf der anderen Seite des Flurs. Als ich es betrete, hat Noah sich schon wieder ins Bett gelegt und die Augen geschlossen, auch wenn ich weiß, dass er noch nicht schläft. Dafür sind die Sorgenfalten auf seiner Stirn zu tief.
Aber für den Augenblick wird meine Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen, das mich anzieht wie ein Magnet. An Noahs Zimmerwand hängt eine Weltkarte, die mehr als die Hälfte der Wand einnimmt. Als ich direkt davor stehe, müsste ich mich strecken, um den oberen Rand noch erreichen zu können.
Aber ihre Größe ist nicht, was mich an der Karte anzieht. Es ist das, was darauf eingetragen ist. Schwarze Linien ziehen sich über die Meere, von einem Kontinent zum anderen. An Anfang und Ende sind mit Stecknadeln Bilder gepinnt. Sie zeigen Noah und mich.
Dieses Mal ist das Gefühl nicht mit dem Auftreffen eines LKW zu vergleichen. Vielmehr ist es wie ein Sonnenstrahl, der mein Gesicht trifft. Ich erinnere mich, wie ich lachend in Noahs Armen liege und scherze, wir könnten ja einen Pfeil auf die Karte werfen, um zu entscheiden, wohin wir gehen, wenn wir endlich mit der Schule fertig sind. Die Welt sehen, das war immer das, was wir beide uns vom Leben gewünscht haben.
Ich habe den Pfeil tatsächlich geworfen. Er landete irgendwo im südamerikanischen Regenwald und für eine Weile gaben Noah und ich uns der Fantasie hin, mit unserem kleinen Segelboot Flüsse hinaufzufahren, von Pflanzen begrenzt, die keiner von uns benennen kann.
Das kleine Segelboot. Wir hatten mehr als ein Jahr beide verbissen darauf gespart, waren neben der Schule arbeiten gegangen und hatten jeden Cent aufgehoben. Schließlich hatten Noahs Eltern den kleinen Rest aufgebracht, den wir nicht hatten zusammenkratzen können.
Und das Boot war uns gewesen, wir hatten Stunden darauf verbracht, waren ins Wasser gesprungen und hatten uns in der Sonne trocknen lassen, egal, ob es eigentlich zu kalt dafür war.
Über den Ozean würden wir segeln, das hatten wir uns versprochen. Wir würden die Welt erobern, nur wir zwei zusammen, wenn wir endlich frei waren, zu tun und zu lassen, was auch immer wir wollten.
Wir hatten uns das Paradies auf Erden herbeigeträumt, nur wir beide, den Wind in unseren Haaren und die Sonne in unseren Gesichtern.
Und dann bin ich gestorben.
Irgendwann habe ich meine Finger in die Karte gekrallt, während die Erinnerungen über mich hineingebrochen sind, und jetzt ziehe ich die Hand zu einer Faust zusammen. Meine Nägel hinterlassen weiße Kratzspuren auf dem Blau des Ozeans.
Das hier war ich. Das hier ist, was ich vom Leben wollte. Ich drehe mich zu Noah um. Irgendwie hat er es geschafft, auch nach Emilys Worten einzuschlafen. Er ist, was ich einmal vom Leben wollte. Er ist, was mir entrissen wurde. Gemeinsam mit allem, was ich mir erträumt hatte.
Langsam gehe ich zurück zum Bett. Als ich noch am Leben war, gab es für mich nichts Gruseligeres als die angeblich romantische Vorstellung, dass jemand nachts in deinem Zimmer steht und dich beim Schlafen beobachtet.
Jetzt kauere mich neben Noahs Bett auf den Boden und betrachte ihn.
Langsam fädele ich meine Finger um Noahs. Einen Moment lang betrachte ich uns, meine blasse und seine gebräunte Hand. Aber die Wärme, die einmal zwischen uns geherrscht hat, ist hinter einem Schleier verschwunden und ich kann sie nicht mehr erreichen, so sehr ich mich mental auch danach ausstrecken mag. Die Geste fühlt sich fremd an.
Auf Noahs Nachtisch steht eine Uhr. Ich betrachte sie abwesend und für einen Augenblick entscheide ich mich, dass ich einfach nur hier sitzen und der Anzeige dabei zusehen kann, wie sie die Minuten für mich zählt.
Irgendwann verfärbt sich der Himmel vor Noahs Fenster zu einem helleren Blau, dann wird er grau. Bald wird die Sonne aufgehen und ich muss gehen. Kurz bevor es allerdings so weit ist, tritt Kyle ein.
Er hat die Baseball-Cap abgesetzt und knetet sie stattdessen in seinen Händen. Hellbraune Haare fallen ihm ums Gesicht.
Offensichtlich begreift er in dem Moment, in dem er mich neben dem Bett knien sieht.
„Lass uns gehen, Miriam", sagt er leise in die Stille des Zimmers hinein, in der ich mich so wohlig eingekugelt habe.
„Ich bleibe hier, solange ich kann."
Kyle hockt sich neben mich. „Dieser Ort tut dir nicht gut", sagt er sanft.
Mein Kopf fährt zu ihm herum. „Was weißt du schon davon?"
Einen Augenblick sieht es so aus, als würde er mir Widerworte geben wollen, dann überlegt Kyle es sich anders. „Nichts, natürlich. Aber du kannst hier nicht bleiben."
Doch die Wut, die gerade in mir aufflackert, tut mir viel zu gut. Sie vertreibt die Taubheit, die sich in meine Gliedmaßen eingeschlichen hat. Ich lasse Noahs Hand los und stehe auf, sodass ich auf Kyle hinuntersehen kann. „Das werden wir ja sehen", zische ich.
Er richtet sich ebenfalls auf. „Miri –"
„Was glaubst du eigentlich, mir sagen zu können?", schreie ich. „Du hast doch noch nie versucht, irgendetwas zu erreichen!"
Ich will doch einfach nur in Ruhe gelassen werden. Ich will in dieser Position versinken, bis mich irgendjemand zum Aufstehen zwingt.
Kyle weicht einen Schritt zurück. „Wo kommt das denn auf einmal her?"
„Die ganze Zeit kommst du mir damit, dass ich nicht versuchen soll, herauszufinden, wer ich einmal war! Nur weil du sogar als Geist den Ehrgeiz eines ... eines ... was weiß ich!" Die Tatsache, dass mir kein passender Vergleich einfallen will, macht mich nur noch wütender. „Deswegen bist du doch immer noch ein Medium, oder? Weil dir einfach alles egal ist!"
Kyles Miene verdüstert sich. „Ich verstehe, dass du gerade aufgewühlt bist –"
„Mir ist es aber nicht egal!"
Die Sonne geht auf, malt einen schmalen Lichtstreifen auf Noahs Zimmerboden und lässt ausgerechnet die Weltkarte blau erstrahlen.
„Diese Menschen hier haben mir etwas bedeutet und ich habe es verdient, in ihrer Nähe sein zu wollen!", schreie ich und ich bin froh, als Kyle mit jedem Wort ein Stück weiter zurückweicht. „Ich brauche deine Hilfe nicht mehr! Dann musst du dich auch nicht mehr mit so etwas auseinandersetzen. Das ist es doch, was du willst, oder?"
Kyle will etwas antworten, ich kann es an der Art sehen, wie er einatmet, aber das ist der Moment, in dem ich das Dröhnen des Motors höre. Dieses Mal bekomme ich keine Zeit, mich ihm zu widersetzen, der Sonnenaufgang ist heute ein unumstößliches Hindernis.
Ich werde zurückgerissen, ohne Wehrmöglichkeit, wieder einmal überkommt mich das Gefühl, an einem Haken zu hängen. Ich rase durch das Haus, das als Schemen an mir vorbeizischt, durch den Vorgarten und über den Bürgersteig hinweg – bis die Welt wieder zur Ruhe kommt und ich neben Leif sitze.
Das freundliche Lächeln verursacht mir Übelkeit. „Hattest du einen aufschlussreichen Tag?", fragt er.
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In Memoriam
ParanormalMiriam ist tot. Eigentlich hat sie sich mit diesem Schicksal abgefunden, denn als Poltergeist ist sie zweifellos talentiert. Wäre da nicht die Legende von einem Taxi, das einen nicht dorthin bringt, wohin man möchte, sondern dahin, wohin man muss...