Kapitel 1: Alhaitham

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Kapitel 1: Alhaitham

An diesem frühen Abend regnete es in Strömen. Obwohl Alhaitham seinen türkisgrauen Regenschirm ausgepackt hatte, blieb seine Kleidung von dem nassen Wetter nicht verschont. Und obwohl er jeder erdenklichen Pfütze auswich, spürte er nur zu deutlich, wie die Nässe in seine Schuhe eingedrungen war, was ihn vor Ekel erschaudern ließ. Zuhause würde er sich als erstes aus der nassen Kleidung schälen und sich ein heißes Bad machen.

Das stand zumindest ganz oben auf seiner Prioritätenliste und Alhaitham war jemand, der sich so leicht nicht von seinen Plänen abbringen ließ. Aber manchmal schien auch bei ihm das Schicksal unerwartet zuzuschlagen, was ihn zum Umdenken umleiten musste.

So wie heute.

Hätte er nur geahnt, was ihn erwartete, wäre er nicht stehen geblieben. Hätte er nur im Entferntesten vermutet, dass sein kurzer Stopp für ihn ein großes Verhängnis sein würde, hätte er einen großen Bogen um diese Taverne gemacht. Aber er hätte es nicht besser wissen können.

Der Regen hämmerte förmlich gegen seinen Schirm, als er angehalten hatte. Überrascht blieben seine Augen auf einem zusammengekauerten Knäuel aus blonden Haaren und einem schwarzen Anzug bestehend hängen, der nicht weit vom Eingang der Taverne saß und sein Gesicht in seine Arme vergraben hatte.

Verwirrt brummte er. Es war für ihn unschwer zu erkennen, dass es sich um seinen Chef Kaveh handelte. Und entweder hatte Kaveh sein Brummen vernommen oder es war reiner Zufall, dass der drei Jahre ältere Mann seinen Kopf hob und direkt in Alhaithams Richtung blickte.

"Al...Alhaitham...", schniefte er und er zog geräuschvoll seine Nase hoch. Seine roten Augen schwammen in Tränen und seine Unterlippe vibrierte, zitterte unter den hervordringenden Schluchzern, die sogar einen eiskalten Stein, wie Alhaitham es war, brechen konnte.

Langsam lief er auf ihn zu, sein Blick nach wie vor verwirrt, aber auch mitleidig. Jeder in der Medienabteilung wusste, dass Kaveh zu Alkohol und Drama neigte, weswegen Alhaitham noch zögerlich war. Aber er kannte diesen Kerl jetzt schon seit fast fünf Jahren, er hatte durchaus ein Herz für den Blonden, weswegen er mittlerweile gut auseinanderhalten konnte, ob es nur eine überdramatisierte Show war oder ob Kaveh gerade wirklich am Boden war.

"Es regnet, Chef. Du solltest nach Hause und..."

"Ich hab kein Zuhause mehr..."

"Was?" Als Kaveh ihn unterbrach und ihm diese Hiobsbotschaft überbrachte, weiteten sich seine Augen und dahin war sein Pokerface, das jegliche Gefühle überspielte und nie preisgab, was er dachte. Aber gerade war er wirklich hin und hergerissen zwischen: Willst du mich verarschen? und Fuck, was ist passiert, kann ich dir helfen?

Er war überfordert. Aber Kaveh würde nicht mal im Vollsuff über so etwas scherzen, oder?

"Ich wurde rausgeworfen, Alhaitham... Sie hat die Beziehung beendet, obwohl ich doch alles..." Seine Stimme brach und er vergrub wieder heulend sein Gesicht in seine Arme.

Danach herrschte für ein paar Sekunden Stille. Nur das wehleidige Schluchzen und Wimmern des Älteren war zu hören, neben dem ewigen Prasseln und Hämmern der schweren Regentropfen.

Tief atmete Alhaitham durch, schloss seine Augen und dann drangen Worte aus seinem Mund, die er nicht allzu viel später bereuen würde.

"Dann komm mit zu mir."

Wie es dazu kam:

"Alhaitham, hey, Alhaitham!" Kurz nachdem er gerufen wurde, spürte er eine unangenehme Berührung um seinen Nacken und ein Gewicht auf den Schultern und an der Seite. Alhaitham schaute jedoch nicht auf, sondern blickte konzentriert auf seinen Bildschirm und tippte weiter, als hätte es diese unnötige Unterbrechung nie gegeben. Gerade, als er überlegte, seine Kopfhörer, die er stets auf der Arbeit trug, einzuschalten, um das nervige Geschwätz seines Arbeitskollegen zu übertönen, lachte dieser auf und lehnte sich noch näher an ihn ran, dass er fast vom Stuhl gerutscht wäre.

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