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𝑫𝒆𝒓 𝑮𝒓𝒖𝒏𝒅, 𝒘𝒂𝒓𝒖𝒎 𝒊𝒄𝒉 𝒈𝒆𝒈𝒆𝒏𝒖̈𝒃𝒆𝒓 𝑲𝒐𝒃𝒐𝒍𝒅𝒆𝒏 𝒎𝒆𝒉𝒓 𝑫𝒖𝒓𝒄𝒉𝒔𝒆𝒕𝒛𝒖𝒏𝒈𝒔𝒗𝒆𝒓𝒎𝒐̈𝒈𝒆𝒏 𝒉𝒂̈𝒕𝒕𝒆 ...

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»Bitte, bitte! Lass mich nur fünf Minuten schauen! Bitte! Nur fünf Minuten!« Mit einem flehenden Ausdruck fixiert mich Tim, während er sich auf die Knie wirft und bettelnd die gefalteten Händen nach oben streckt. Dabei sieht er einfach verboten süß aus. Wie soll man da denn standhaft bleiben können?

»Aber du musst erst essen«, entgegne ich ihm streng, würde aber dem kleinen Knirps insgeheim zu gerne erlauben, seine heiß geliebte Sendung anzuschauen. Aber das Regelwerk an der Kühlschranktür — zum Glück habe ich am Vormittag genügend Zeit gehabt, um mich hier genauestens umzusehen — besagt, dass Tim vor dem Essen nicht fernsehen darf. Und danach auch nur für eine Stunde.

»Menno, so gemein bist du sonst nie! Ich verrate es Mami auch nicht, dass ich gekuckt habe. Versprochen!« Aha, Dora war wohl nicht ganz so konsequent. Aber wer kann es ihr verdenken? Diese großen braunen, hoffnungsvollen Kinderaugen gepaart mit dieser unwiderstehlichen Schmollschnute. Knuffig und unschuldig. Hilfe, gleich kommen Muttergefühle auf ...

»Nö.« Ich weiche Tim absichtlich aus und verräume die Einkäufe. Gleichzeitig bereite ich alle Zutaten für das Mittagessen vor. Spaghetti Bolognese. Da kann man nichts falsch machen.

»Du bist so, so, so gemein! Ich geh' jetzt auf mein Zimmer! Ich hab' keinen Hunger!«, schreit der kleine Kerl auf einmal und stampft wütend mit den Füßen abwechselnd auf den Boden. Dann setzt er sich schon Richtung Kinderzimmer in Bewegung.

Trotzphase. Jetzt muss ich taktisch klug vorgehen, bevor er komplett dichtmacht.

»Aber weißt du, Tim. Wenn du fernsiehst, dann kannst du mir doch gar nicht hier in der Küche helfen. Dabei bräuchte ich dich doch ganz dringend als Vizechefkoch«, sage ich im traurigen Tonfall und lasse ganz unabsichtlich die Packung Nudeln fallen.

Tim hält inne und dreht sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir um. Ha, jetzt habe ich ihn! »Vizechefkoch?«

Ich nicke heftig. »Ja! Wie soll denn die Küche ohne dich laufen? Sonst vergesse ich beim Kochen ja die Hälfte.«

»Deswegen schmeckt dein Essen immer so pfui?«, fragt Tim und verzieht den Mund zu einer Grimasse, die mich erahnen lässt, wie genießbar bisher das Essen von Dora für ihn gewesen sein muss.

Unweigerlich entfährt mir ein schallendes Gelächter, in das Tim sogleich einstimmt. Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder gefangen habe. »Genau das ist der Grund! Aber jetzt habe ich ja dich an meiner Seite. Immerhin bist du schon so ein Großer mit ... äh ... vier Jahren ...«

»Fünf«, ruft er empört und hält seine rechte Hand hoch, damit ich dort die niedlichen Finger, die sein Alter visualisieren, begutachten kann. Keine Würstchen, wie ich sehe.

»Wie die Zeit vergeht.« Auweia, jetzt höre ich mich wie eine dieser Uralttanten an, die einen zum letzten Mal vor einem Jahr gesehen haben, aber so tun, als wäre es mindestens ein Jahrzehnt gewesen. »Es wird also höchste Zeit, dass du deinen Platz als Vizechefkoch einnimmst.« Bevor ich hier noch mehr Blödsinn verzapfe.

»Bekomme ich denn auch eine Kochmütze?«, fragt der kleine Mann, während er die Spaghetti aufhebt. Dabei springen seine braunen Löckchen hin und her. Genau sie sind der Grund, warum ich von Anfang an geliefert gewesen bin, als er im Kindergarten das erste Mal vor mir gestanden hat. Zu niedlich sieht sein Gesicht aus, wenn es von den kleinen Kringeln umspielt wird. Ich habe ja keine Ahnung gehabt, welches Kind mich erwarten würde. Hätte auch ein hässlicher, nerviger Kobold sein können. So einem Exemplar gegenüber wäre ich vermutlich durchsetzungsfähiger gewesen. Denn Tim ist ein unglaublich goldiges und lebensfrohes Kind, das genau weiß, was es will und wie es dazu kommt. Tja,... und da wären wir wieder.

»Selbstverständlich bekommst du eine Kochmütze. Was denkst du denn?« Mist, dieses Kindchenschema macht mich vollkommen schwach. Bei dem Anblick würde ich ihm jetzt sogar die Sendung anschauen lassen.

»Wie cool! Du bist die beste Schwester der Welt!« Tim strahlt über beide Ohren und drückt mich so stark an sich, dass ich fast umfalle, weil ich überhaupt nicht damit gerechnet habe.

Die nächste Viertelstunde verbringen wir damit, eine Kochmütze zu kreieren. Und was soll ich sagen? Sie gehört nicht unbedingt zu meinen Best-of-Bastelwerken, aber Tim trägt sie mit Stolz und wir haben anschließend eine unfassbar lustige Zeit zu zweit in der Küche. Der Boden braucht nach der Aktion zwar eine Grundreinigung und die Arbeitsflächen sehen aus, als wäre eine Bombe darauf explodiert, aber das ist es mir allemal wert. Aschenputtel darf es schließlich nicht an Arbeit mangeln, sonst könnte es ja langweilig werden.

Selbst während des Essens möchte Tim seine Kochmütze nicht abnehmen. Um das Outfit zu komplettieren, sollte ich ihm für das nächste Mal vielleicht noch eine kleine Schürze besorgen, auf der Vizechefkoch aufgenäht ist.

Für das nächste Mal? Ernsthaft? Auch wenn sich das alles unglaublich real anfühlt, kann es das dennoch nicht sein, vergiss das nicht! Oder hat man schon mal was von »Körpertausch« und »Zeitreisen« in der Zeitung gelesen? Meinem Verstand ist echt nicht mehr zu helfen ...

Es reicht schon, dass ich hier so tue und mitspiele, als wäre es echt. Ich könnte mich schließlich auch ins Tropenparadies verkrümeln und in den Traum hineinleben. Aber das wäre nicht ich, denn ich brauche immer irgendeine Beschäftigung, weil ich einfach nicht ruhig sitzen kann. Manchmal bin ich deswegen schon von mir selbst genervt ...

»Das war so lecker! Das beste Essen überhaupt! Ab jetzt müssen wir immer zusammen kochen!«, reißt mich Tim aus meinen Gedanken.

Mit einem Lächeln beobachte ich, wie er sogar noch die letzten Überbleibsel aus seinem Teller schleckt. »Das freut mich. Und weißt du was? Du darfst jetzt gerne fernsehen, wenn du willst. Ich mach dann mal den Ab...« Kaum habe ich das gesagt, stürmt er auch schon ins Wohnzimmer. Kopfschüttelnd blicke ich ihm hinterher, räume lächelnd den Tisch ab und murmele dabei den Rest des Satzes: »...wasch und schau auf die Uhr.«

Ich bin ja schon richtig im Aschenputtelmodus angekommen.

Während ich die Geschirrspülmaschine einräume, frage ich mich, wie lange ich dieses Theater noch mitspielen muss. Wann bin ich wieder ich? Nicht dass ich mich nach Kopfschmerzen und Untersuchungen sehne, aber ich kann nicht ewig in dieser Scheinwelt umherwandeln. Irgendwie ist es ja teilweise ganz nett, aber ich verstehe nicht, was ich hier soll. Vielleicht wache ich auf, wenn ich es herausgefunden habe? Na toll, kann sich dann nur um Stunden oder Tage handeln. Mir fällt nämlich partout kein Reim auf diese Sache ein.

»Mhm, das duftet ja verführerisch.« Ich stehe urplötzlich wie versteinert da, während dieser Satz in einem merkwürdig geflüsterten Tonfall in mein linkes Ohr dringt.

Als wäre ich vom Blitz getroffen, elektrisiert sich jedes einzelne Haar auf meinem Körper und mein Magen zieht sich unangenehm zusammen. Mir wird derart übel, dass ich mich am liebsten gleich übergeben möchte. Ein vollkommen neues Gefühl erfasst mich. Am liebsten würde ich sofort die Beine in die Hand nehmen. Aber genau das ist mir nicht möglich, weil ich wie gelähmt vor der Spüle stehe und nicht fähig bin, auch nur einen Mucks von mir zu geben.

 Aber genau das ist mir nicht möglich, weil ich wie gelähmt vor der Spüle stehe und nicht fähig bin, auch nur einen Mucks von mir zu geben

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