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Doc Phil war sehr ambitioniert.

Seit Stunden folgte ich ihm, hörte mir seine Geschichten und Erinnerungen die er mit den Räumlichkeiten verband an, ohne auch nur einmal genervt oder gelangweilt zu wirken - was schon fast an ein Wunder grenzte. Der alte Mann war freundlich und wollte bloß, daß ich mich schnell einlebte und zurecht fand, also nahm ich alles weitere in Kauf.

Nachdem Unterricht ging es in die Pause, die er dazu nutzte mir das gesamte Gelände im Schnelldurchlauf zu zeigen. Die riesige Mensa die sich in einem separaten Gebäude befand bewirtete alle Stundenten und bot ausreichend Platz. Das tägliche Menü variierte, hatte er mir erklärt. Es wunderte mich wenig das die Schüler sich dazu entschlossen hatten hier zu studieren. Es war das reinste Paradies.

Im Zentrum der Hörsäle, der Mensa und den Wohnheimen befand sich eine Parkanlage. Eine große Fläche, die die Studenten gern dazu nutzten sich unter der Sonne zu entspannen, zu lernen oder sich einfach nur zu unterhalten grenzte direkt an einen kleinen künstlich eingefügten Bachlauf.

In meiner Zeit als Student hatte ich solch Luxus nicht verzeichnen können, im Gegenteil. Ich studierte in einem alten Komplex, der aussah wie nach Kriegszeiten und der mühevoll von Mörtel und anderen Bauwerkstoffen zusammen gehalten wurde. Deswegen bestand meine Freizeit Aktivität auch aus durchaus spannenderen Dingen, wie der regelmäßige Besuch in einer staubigen Besenkammer, die ich nie allein betrat.
Just in dem Moment als ich über meine sexuellen Eskapaden nachdachte musste ich grinsen, denn die nächste Tür die mir ins Auge stach war genau das - eine Abstellkammer.

Doc Phil sah mich kurz verwundert an, weil er mein grinsen gesehen hatte, kommentierte es allerdings nicht. Er diente mir als Mentor, weil er genau dieselben Fächer ausgewählt hatte wie ich : Literatur und Geschichte. Und genau letzteres stand nun auf dem Plan, als wir zur nächsten Stunde in den Hörsaal aufbrachen.

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Eine Gänsehaut durchfuhr mich, als wir den Hörsaal betraten. Einige Studenten saßen bereits wartend dort, unter ihnen auch die junge Dame von heute morgen. Verschmitzt grinste sie mich an und ich bedachte sie mit einem kurzen nicken, hielt mich jedoch nicht weiter damit auf sie anzusehen - es war unangebracht.

Doc Phil ging heute das Thema des zweiten Weltkriegs durch und wollte von den Schülern wissen inwieweit dieses Ereignis die heutige Zeit beeinträchtigte oder formte. Eine rege Diskussion zwischen Lehrkraft und Schülern, die trotz Meinungsverschiedenheiten sachlich und kompetent geführt wurde trug so zum baldigen Ende der Stunde bei. Wie immer hatte ich mich mit allem zurück gehalten - kam aber dann doch nicht ganz davon, wie erhofft.

"Mr. Conté? Was denken Sie?" hörte ich Amy fragen und sah sie unvermittelt an. "Wäre die Welt heute eine andere, hätte es diesen Krieg nicht gegeben? Oder wurden so die Linien klar definiert, also Grenzen gesetzt?"

Ich überlegte. Zu meiner Zeit hatte ich unzählige Stunden in Hörsälen damit verbracht bei diesem ermüdenden Thema einzuschlafen. Geschichte faszinierte mich, doch die Kriege dieser Welt waren mir zuwider.

"Ich denke schon. Dieses Ereignis hat einschneidende Spuren hinterlassen. Wie man sehen kann - auch viele Jahrzehnte später. Gäbe es sonst eine Spaltung in der Welt? Die gute und die böse Seite? Ich glaube kaum. Wenn es nie zu diesem Krieg gekommen wäre, so denke ich... Wäre dass natürlich durchaus das beste gewesen, allerdings wäre der Zündstoff für eine Eskalation stets gegeben. Eine Linie, wie Sie sie beschreiben - oder eine Grenze... Ist nicht willkürlich. Es gibt Gründe wieso es gewisse Grenzen gibt."

Meine Antwort war offenbar zufriedenstellend und Doc Phil nickte. Ich dachte, ich hätte es überstanden. Falsch gedacht.

"Manche Grenzen müssen also sein, sie sind notwendig. Aber nicht alle Grenzen ergeben Sinn. Finden Sie nicht auch?" fragte Amy. Diesmal war ich nicht ganz sicher ob wir immer noch beim gleichen Thema waren, nicht zuletzt weil sie mich anders ansah. Innerlich schlug ich mir an den Hinterkopf und schimpfte mich selbst, ignorierte nach außen die Anspielung - wenn es denn wirklich eine gab.
Doc Phil redete mich schließlich und entließ die Schüler aus dem Hörsaal. Ich war sichtlich erleichtert.

Aurelio Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt