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"Jessie!", höre ich Nancys Stimme aus der Küche. An Wills langsamen Atem merke ich, dass er mittlerweile eingeschlafen ist. Lächelnd hauche ich ihm einem Kuss auf den Kopf und lege ihn zu dem ebenfalls friedlich schlafenden Rick in das kleine Bettchen neben dem Sofa. Bevor ein erneutes Rufen von Nancy die beiden wieder wecken kann, mache ich mich auf den Weg in die Küche.

"Was ist los?", frage ich meine Mitbewohnerin und beste Freundin, die in ihrem Seiden-Kimono barfüßig am Küchenmixer steht. Ich bin froh, dass wir uns die recht große und helle Wohnung im New Yorker Stadtteil Hell's Kitchen teilen, zum einen, weil ich die Miete alleine nicht bezahlen könnte und zum anderen, weil sie mir gerne mit den gerade mal 10 Monate alten Zwillingen hilft. Und natürlich weil wir beste Freundinnen sind.
Allerdings erinnert wie mich gerade daran, warum ich nicht gerne mit ihr zusammenlebe. Denn sie braut mal wieder irgendeinen Smoothie, den sie entweder selbst gemixt oder von ihrem Lieblings-Esotherik-Blog hat und dessen recht unangenehme Farbe mir  auffällt als ich näher komme.  Obwohl ich vielleicht erwähnen sollte, dass ich genrell kein Fan von Smoothie jeglicher Art bin.

"Was ist das schon wieder für ein ekliges Zeug?", frage ich, um zumindest darauf eine Antwort zu bekommen: "Kurkuma-Ingwer-Rosenkohl!" Ich überlege, ob man von einem dieser Inhaltsstoffe eventuell high werden könnte, denn so begeistert von Rosenkohl wie Nancy gerade kann doch niemand ohne Drogen sein. Obwohl ich das in Nancys Fall doch für wahrscheinlich halte.
"Urks", meine ich nur.
"Nein, gar nicht, es ist total lecker! Willst du probieren?", sie schenkt mir ein süffisantes Grinsen, weil sie genau weiß, wie sehr ich dieses Zeugs alleine wegen seiner Farbe verabscheue.

"Hast du mich deshalb gerufen?", grummle ich. Der grün-braune Matsch ist für mich eindeutig kein triftiger Grund vom Sofa aufzustehen.
"Nein", das Grinsen im Gesicht meiner Freundin ist bedenklich breit. "Ich hab ein Date für dich!"

"W-Warte...WAS?", keuche ich. "Hörr zu, es ist nicht so, dass ich grundsätzlich was gegen Dates habe, aber ich habe keine und plane das auch nicht, das weißt du genau."
Nancys Grinsen verwandelt sich in Besorgnis. "Ja, ich weiß. Aber Carter ist jetzt fast zwei Jahre her und du bist immernoch nicht einmal annähernd über ihn hinweggekommen, obwohl er ganz gut klar gemacht hat, dass er dich und die Jungs nicht verdient! Er hat euch im Stich gelassen, J, das solltest du dir dringend mal klar machen! Ohne ihn wäre dein Leben zehnmal so einfach!"

Ich lasse mich auf den Barhocker fallen, der unnötigerweise mit seinen Artgenossen vor unserer Kücheninsel rumgammelt. Ich weiß, dass Nancy recht hat. Carter hat uns verlassen und sich seitdem auch nicht mehr gemeldet (nicht dass er noch die Möglichkeit dazu hätte, nachdem ich meine Nummer geändert habe und meine Social-Media-Accounts gelöscht habe). "Ich weiß", murmle ich, schlucke die aufsteigenden Tränen runter, weil es bescheuert ist, um Arschlöcher zu weinen und stehe auf. "Rick und Will schlafen, du kannst mich anrufen wenn sie aufwachen. Ich gehe kurz raus."

Nancys traurigen Blick spüre ich noch immer, nachdem die Wohnungstür längst hinter mir zugefallen ist.

Letting downWo Geschichten leben. Entdecke jetzt