4

0 0 0
                                    

Unfähig, etwas zu sagen, starre ich ihn an und bin kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.
Ich fühle mich wie in diesen Videos, in denen irgendwelche Soldaten ihre Familie überraschen, nur hundertmal schlimmer.

Auch Carter ist ganz offensichtlich nicht so entspannt, wie sein erster Satz klang. Er kaut auf seiner Unterlippe, wie er es nur tut, wenn er extrem nervös ist.

"Hey", krächzt er schließlich.

"Komm rein", bringe ich hervor und bin froh, dass ich in der Lage bin, zur Seite zu treten und nicht mehr einfach nur starr vor Schock bin.

Ich steuere die Küche an, doch vor der offenen Wohnzimmertür bleibt Carter wie angewurzelt stehen.
Ich stelle mich neben ihn und lehne mich gegen den Türrahmen, weil ich immernoch das Gefühl habe, gleich umzukippen.

Stumm stehen wir da.
Nach einer gefühlten Ewigkeit deute ich auf die Couch. "Setz dich doch."
Er folgt meiner Einladung und lugt vorsichtig in die Wiege, in der Rick wieder eingeschlafen ist. Will schaut still zurück in das Gesicht seines Vaters. Sie haben wirklich genau die gleiche Augenfarbe.

Das merkt auch Carter. "Tolle Augen, Kumpel", sagt er. Seine erstickte Stimme lässt das ganze weniger lässig als beabsichtigt klingen.
"Sie sind eineiige Zwillinge", teile ich ihm mit und setze mich neben ihn.

Er lächelt.
"Du kannst ihn mal nehmen, wenn du willst", schlage ich vor, weil ihm die Frage quasi ins Gesicht geschrieben steht.
"Gerne, aber du musst mir zeigen, wie", bittet er.

Ich nehme Will hoch, der mir einen fragenden Blick zuwirft. Ich lächle so locker, wie ich es gerade zustande bringe.
"Schau, du musst vor allem auf den Kopf achten. Am Besten für ihn ist es so", erkläre ich und lege Carter seinen Sohn in die Arme.

Nach einer Weile meint er leise: "Ich wusste nicht, wo du warst. Ich hab keine Ahnung was damals bei dir passiert ist, aber du warst einfach weg und ich hatte keine Ahnung, wohin."

Ich unterbreche ihn, weil ich diese Aussage ziemlich seltsam finde.
"Nein, warte mal. Du warst einfach weg. Ich bin mit Nancy hierher gezogen, weil ich die Unwissenheit nicht mehr ausgehalten habe. Aber du hättest mich finden können. Ich habe dich angerufen und dir Nachrichten geschrieben, du hättest bis zu dem Unfall meine Eltern fragen können und ich habe sogar deinen Eltern die Adresse gegeben."

"Du hast meinen Eltern die Adresse gegeben?"

Diese Frage lässt meine Welt innerhalb von zwei Sekunden einstürzen.

Als ich vor fast zwei Jahren erfuhr, dass ich schwanger war, wusste Carter es als erstes. Erst hatte ich Angst vor seiner Reaktion, doch wir waren die glücklichsten Menschen auf Erden.
Kurz danach flog Carter nach Texas zu seiner Familie, weil sein Großvater im Sterben lag und kam nie wieder zurück.
Da seine Familie irgendwo im Nirgendwo  wohnte und die nächste Funkzelle fast 200 Meilen entfernt war, konnte ich ihn nicht erreichen.

Zu meiner Überraschung waren es seine Eltern, die mich am Meisten bei der Suche unterstützten, obwohl wir vorher nie eine besonders gute Beziehung hatten. Wir trösteten uns gegenseitig, sie mich wegen Carter und ich sie weil Mrs Jackson unheilbar an Krebs erkrankt war.

Eineinhalb Monate nach Carters Verschwinden erzählten sie mir, sie hätten mit Carter telefoniert und er sei irgendwo in Kalifornien gewesen. Sie sagten, sie hätten es mir gar nicht sagen dürfen, weil er untertauchen wolle.

Am Boden zerstört packte ich meine Sachen und zog mit Nancy nach New York. Carter und ich hatten hier studieren wollen.

Seitdem war ich nie wieder in Detroit. Auch als meine Eltern vor über einem Jahr bei einem Autounfall starben nicht, weil sie in einem Wald außerhalb der Stadt begraben wurden.

Letting downWo Geschichten leben. Entdecke jetzt