83. Carlos Sainz x Lando Norris

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Immerzu hatte er sich den Moment vorgestellt, indem er ihn wiedersehen würde, und doch kam keines dieser Gefühle auch nur ansatzweise an jenes heran, welches ihn in diesem Moment durchströmte als es wirklich geschah. In keinem seiner kühnsten Träume hatte ihr Aufeinandertreffen eine solche Auswirkung auf ihn, wie in dem Moment, indem er ihm wieder gegenüberstand. Ein Gefühlschaos machte sich in ihm breit und ihm überkam der Wunsch nach Flucht, was ihn nostalgisch stimmte. Einst war der Mann, der vor ihm stand, der wichtigste Mensch in seinem Leben und nun konnte er ihm nicht einmal im Kreise von anderen Menschen gegenüberstehen, ohne nervös zu werden. Sie hatten unzähligen Stunden und intime Momente geteilt, dass es ihm beinahe lächerlich vorkam, wie er sich nun aufführte. Er hatte mit ein Haus, ein Bett und ein Leben geteilt, bis der Scheitelpunkt kam und sie zu Fremden wurden, welche die Geheimnisse des anderen kannten. Noch immer kannte er seinen Ex-Partner gut genug, um zu wissen, dass es ihm nicht anders ging und auch er dieser Situation lieber früher als später entfliehen wollte. Ein schmales Lächeln legte sich auf seine Lippen und er nickte dem Mann zu, der ihn einst besser kannte als jeder andere Mensch in seinem Leben, was dieser erwiderte und sie ihre Blicke voneinander abwandten. Es gab Tage, an denen kam alles zusammen, was nur möglich war und sorgte dafür, dass man sich unwohl fühlte – und heute war einer von ihnen. Ausgerechnet er musste sich neben seinen Ex-Partner setzen, obwohl ein Großteil der anwesenden Person ihre Vorgeschichte miteinander kannte. Für die Augen der Öffentlichkeit waren sie lediglich die besten Freunde gewesen, die man sich vorstellen konnte und auf deren Freundschaft viele Menschen neidisch waren, doch hinter verschlossenen Türen war ihre Beziehung anders.

Die Wahrheit war nun einmal, dass er Lando einst seinen Seelenverwandten genannt hatte. Der Mensch, der ihn auch ohne Worte verschwand und bei dem es nur Sekunden dauerte, bis sich seine schlechte Laune verabschiedete. Zuvor hatte er nicht daran geglaubt, dass es ihm möglich war einen solchen Menschen zu treffen, bis er auf den jungen Briten traf, welcher sein Herz im Handumdrehen erobert und fest im Griff hatte. Sein einstiger Teamkollege hatte ihm mehr bedeutet, als alles andere auf dieser Welt und er war sich sicher, dass er alles für ihn getan hätte. Bis dieser Tag kam, an dem er es nicht mehr getan hätte. Der Tag, an dem sich etwas in seinem Inneren verschob und er ins Zweifeln gerat, ob er sein Leben so führen wollte. Als ob sich ein Schalter umgelegt hätte, der nach einem Wechsel schrie und dessen Schreie lauter waren als die, die sein Herz daraufhin erwiderte. Über Wochen hatte er sich in diesem Zwiespalt befunden, bis er für sich die Reißleine zog und der Rationalität seiner Gedanken freie Hand ließ. Mit einmal stand er vor einer Gabelung, die den Verlauf seines Lebens massiv beeinflussen sollte – entweder würde er den Schritt gehen und einen radikalen Neuanfang wagen oder er würde an seiner Vergangenheit und dem Gewohnten eisern festhalten, mit dem Risiko eines Tages sein Leben verpasst zu haben. Immer wieder hatte er in seinem Kopf eine Pro- und Kontraliste aufgestellt, welche beide Entscheidungen unweigerlich mit sich ziehen würden, bis er sich endlich die benötigte Klarheit verschafft hatte.

Der Tag, an dem sich ihre Wege trennten, war von Tränen und Herzschmerz geprägt. Er hatte Lando seinen Standpunkt erklärt, was der junge Brite unter Schluchzen hinnahm, und ihm versicherte, die Entscheidung nachvollziehen zu können. Doch der Spanier wusste ganz genau, dass es seinen jüngeren Partner mehr traf, als er es zugeben wollte. Noch am selben Abend packte er seine Taschen und legte den Haustürschlüssel auf die Kommode im Flur, bevor er mit einem letzten Blick auf seinen weinenden Ex-Partner die gemeinsame Wohnung verließ. All die Erinnerungen, Momente und Gefühle hinter sich ließ, die in dieser Wohnung steckten. Er löste sich aus dem Vertrag mit dem britischen Rennstall und baute sich ein neues Standbein in Italien auf, wo er hoffte sich selbst zu verwirklichen. Die ersten Monate schaffte er es die Erinnerungen an die vergangenen Jahre seines Lebens zu vermeiden, doch je öfter er mit ihnen konfrontiert wurde, desto schwieriger wurde dieses Vorhaben, bis er endgültig daran scheiterte. Wenn er am Abend allein in seiner Wohnung saß, die ihm mit einmal viel zu groß erschien, überkamen ihn seine Gefühle und immer häufiger fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. An manchen Abenden hielt er sein Handy in der Hand und schaute auf den Kontakt seines Ex-Freundes, den er trotz eisernem Willen nicht hatte löschen können. Er konnte ihre Chatverläufe, die lange Anruflisten und die gemeinsamen Schnappschüsse nicht löschen, als ob es sie nie gegeben hätte. Ganz genau wusste er, dass es der letzte Schritt war, um mit diesem Kapitel abzuschließen, doch brachte er diesen radikalen Schnitt nicht übers Herz. Ein oder zweimal hätte er um ein Haar auf den grünen Hörer gedrückt, um Lando anzurufen. Um seine Stimme zu hören, die einst eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

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