Deep End ~ Birdy
Voller Stolz betrachte ich den Beitrag auf Instagram, der vor wenigen Minuten online gegangen ist. Mit Haterkommentaren muss man immer rechnen. Ob als Sänger, Schauspieler, Autor oder sonst was. Das gehört dazu, wenn man in der Öffentlichkeit steht. Es gibt immer Leute, die irgendwas zu meckern haben ... Die meinen, sie können andere schlecht machen und sich dadurch wahrscheinlich besser fühlen. Doch es gibt auch viele Follower, die sich für Christian und Michael freuen. Und die positiven Kommentare überwiegen eindeutig.
Ich bin kurz davor, mir am helligten Tag eine Flasche Sekt zu öffnen. Zur Feier des Tages. Einfach, weil ich meinen Job liebe und ich mich so unendlich für die beiden freue.
Doch ich komme nicht mal dazu die Flasche aus dem Kühlschrank zu holen, da klingelt bereits mein Handy. Mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen nehme ich den Anruf voller Enthusiasmus meines Chefs entgegen.
"Hey ... Ich bin gerade dabei, eine Flasche Sekt zur Feier des Tages zu köpfen. Willst du vielleicht vorbeikommen und wir feiern gemeinsam? Oder lieber später im Büro?"
Ich lache in den Lautsprecher meines Handys, doch anders als erwartet, scheint mein Chef alles andere als begeistert zu sein.
"Sag mal, spinnst du?"
In meinem Hals bildet sich ein großer und schwerer Kloß, der meine Atmung beeinträchtigt.
"Dank dir habe ich eine Klage am Hals."
Seine Stimme klingt wütend und sein Tonfall lässt zu wünschen übrig, während sich mein Magen schmerzlich zusammenzieht. Was sagt er da? Klage am Hals?
Ich überlege krampfhaft, worauf er hinaus will. Was ist denn passiert? Und wieso sollte er wegen mir verklagt werden?
"Was meinst du damit? Ich habe doch alles genauso gemacht, wie Christian es sich gewünscht hat", erkläre ich mit ruhiger Stimme.Bestimmt handelt es sich um ein Missverständnis.
"Genauso gemacht, wie er wollte? Einen Scheiß hast du ... Grace! Du bist mit dem Beitrag einen Monat zu früh dran. Michael ist eigentlich noch in einer Beziehung und dem steht jetzt die Kacke wortwörtlich bis zum Hals."
Ich bekomme Schnappatmungen, setze mich und kann nicht glauben, was er da sagt. Ich soll mich im Datum vertan haben? Nein, das kann doch nicht sein. Doch ich komme überhaupt nicht zu Wort, um mich zu rechtfertigen.
"Nicht nur Christian verklagt uns jetzt, sondern auch noch sein Partner."
Panisch krame ich mein kleines Notizbuch aus meiner Tasche, blättere bis zu der Seite mit den Notizen, die ich bei dem Treffen mit Christian gemacht habe, und spüre, wie mein Herzschlag für einen Moment lang aussetzt.
Nein ... Das darf nicht wahr sein. Offensichtlich ist mir beim Übertragen des Termins auf mein Laptop doch tatsächlich ein Fehler unterlaufen. Aber das kann doch nicht sein ... Was meine Arbeit angeht, bin ich unglaublich gewissenhaft und korrekt. Wie konnte das nur passieren? Und vor allem, wie konnte mir so etwas passieren?
Mir wird übel, meine Atmung wird schwer und mein ganzer Körper zittert. Ich muss es unbedingt wiedergutmachen. Wenn ich nur wüsste, wie ...
"Es tut mir leid, Viktor. Ich bring das wieder in Ordnung und rede mit Christian, okay?"
Ein verächtliches Lachen dringt in mein Ohr.
"Du machst gar nichts. Außer dir deine Kündigung abholen", schnauzt Viktor ins Telefon, aber das kann er doch unmöglich ernst meinen. Er hat mir so viel zu verdanken. Ich mache alles für meinen Job. Ohne mich wären ihm zig Aufträge durch die Lappen gegangen. Ohne mich, wäre die Firma nicht da, wo sie heute ist. Nur weil mir auch mal ein Fehler unterlaufen ist, soll ich jetzt das aufgeben, für das ich jahrelang alles andere habe links liegen lassen?
"Viktor, das kannst du doch nicht machen", flehe ich förmlich in den Lautsprecher, doch er bleibt eisern.
"Und wie ich das kann. Und ich werde. Du hast der Firma eine Menge Ärger eingehandelt und zusätzlich unseren Ruf ruiniert."
Jetzt reicht es mir aber. Diese Anschuldigungen gehen zu weit. Mein Ärger verwandelt sich in Wut und ich spüre, wie mein Körper sich anspannt.
"Das ist also der Dank dafür? Dass ich mir jahrelang den Arsch für dich und den Laden aufgerissenen habe? Sogar meine Beziehung ist dadurch in die Brüche gegangen. Nur weil du nicht mal an dem Tag meiner Hochzeit ohne mich klargekommen bist!", platzt es aus mir heraus.
"Weißt du was, Grace? Das ist nicht mein Problem. Bring deine Sachen morgen ins Büro. Dann kannst du dir deinen Aufhebungsvertrag und deine Abfindung abholen."
Er beendet das Gespräch, doch so leicht gebe ich nicht auf. Nachdem ich mich noch den ganzen Abend lang geärgert habe, mache ich mich am nächsten Tag auf den Weg in das Büro. Viktor ist gerade in einem Termin mit Christian, Michael und den Anwälten.
Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe und spiele mit einer Haarsträhne. Mein heutiges Aussehen zeigt eindeutig, dass die Nacht alles andere als gut war. An Schlaf war kaum zu denken. Doch egal, wie sehr ich mich auch bemüht habe, die Augenringe zu überdecken ... Es hat nichts genützt.
Als ich die Tür höre, drehe ich mich schlagartig um und sehe Christian, der gerade über den Flur läuft. Ich folge ihm und fange ihn wenige Minuten später vor der Herrentoilette ab.
"Grace", sagt er kaum hörbar und bleibt wie angewurzelt vor mir stehen. Er schluckt schwer und zieht seine Mundwinkel nach unten.
"Christian, das alles ... Es tut mir so leid. Ich muss da irgendetwas durcheinander gebracht haben. Es war wirklich keine Absicht, sondern ein ganz dummer Fehler. Der hätte mir nie passieren dürfen. Bitte glaub mir das. Ich wollte euch zu keinem Zeitpunkt irgendwie schaden."
Ich atme tief durch und will mich gerade weiter rechtfertigen, als Christian sich räuspert und mich damit unterbricht.
"Michael hat gerade echt Probleme wegen deines Fehlers. Seine Beziehung ist ... war toxisch und es war für ihn nicht ganz einfach, sich daraus zu lösen. Auch wenn es vielleicht nicht richtig war, dass er zweigleisig gefahren ist, hast du ihm die Chance genommen, es selbst zu sagen ... Durch dich weiß es nun die ganze Welt."
Ich nicke verständnisvoll und senke meinen Blick. Natürlich kann ich nachvollziehen, dass er sauer ist. Aber mir ist dennoch wichtig, dass er weiß, dass das alles ganz sicher keine Absicht war. Doch egal, wie sehr ich mich auch ins Zeug lege, Christian will sich nicht von einer Klage abbringen lassen. Er bleibt dabei und sein Partner ebenso.
"Machs gut, Grace."
Er lässt mich stehen und geht auf direktem Wege in den Besprechungsraum zurück. Bedrückt sehe ich ihm nach und fühle mich auf einmal sehr unwohl in dem Büro. Viele meiner Kollegen sind nicht hier. Sie arbeiten größtenteils alle wann sie wollen und wo sie wollen. Doch der ein oder andere ist dennoch hier und hat vermutlich schon mitbekommen, was passiert ist. Sowas bleibt nie lange geheim. Es spricht sich herum. Und nicht nur innerhalb der Firma, sondern auch in der Branche. Die Konkurrenz wettert jetzt wahrscheinlich schon gegen uns und macht uns schlecht. Und ich werde bekannt werden, als die Frau, die sich bei dem Outing eines Supermodels im Datum vertan hat.
Eigentlich bin ich doch Profi. Warum ist das ausgerechnet mir passiert? Ich muss nochmal versuchen, mit Viktor zu sprechen, denn so einfach kann er mich nicht rauswerfen. Er hat mir einfach zu viel zu verdanken und er konnte immer auf mich zählen. Ich liebe meinen Job einfach zu sehr, als es einfach hinzunehmen.
Bedrückt gehe ich in die kleine Küche, ziehe mir einen Kaffee am Automaten und setze mich damit an den runden Tisch aus Teakholz. Wie oft habe ich hier mit meinen Kollegen gesessen und nach einem Meeting einen Snack zu mir genommen?! Das soll auf einmal nicht mehr sein?
Wie immer schmeckt der Kaffee scheußlich. Alleine deswegen habe ich viel lieber zuhause gearbeitet. Aber irgendetwas muss ich gerade tun, um mich zu beschäftigen und um die Zeit totzuschlagen.
Noch immer frage ich mich, wie ich so neben der Spur sein konnte. Ich bin doch sonst immer so aufmerksam. Noch nie zuvor ist mir ein derartiger Fehler passiert. Egal, wie viel ich um die Ohren hatte.
Abwesend schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel hat sich inzwischen zugezogen und es fängt an zu regnen. Das miese Wetter passt perfekt zu meiner Stimmung. Mein Leben gerät scheinbar gerade komplett aus den Fugen und mir ist einfach nur zum Heulen zumute.
Ich spüre natürlich eine gewisse Traurigkeit, doch Tränen kommen keine. Erst letztens als Alec mich verlassen hat, habe ich versucht, zu weinen. Allerdings vergebens.
Als ich Viktors Stimme hinter mir höre, werde ich aus meiner Gedankenblase gerissen.
"Grace, du bist ja noch hier. Hat man dir deinen Aufhebungsvertrag noch nicht gegeben?"
"Victor", begrüße ich ihn mit traurigem Blick. Mir ist klar, was ich angerichtet habe. Schuldbewusst schiebe ich meinen Kaffeebecher beiseite und stehe auf.
"Doch, aber ... Ich wollte nochmal mit dir reden. Ich weiß, das ist alles total blöd gelaufen. Aber ... bitte, Viktor! Gib mir noch eine Chance. Du warst doch sonst immer so zufrieden mit meiner Arbeit, oder etwa nicht?"
Er schnauft und schluckt schwer. Ich weiß, dass es ihm nicht leicht fällt.
"Ich habe keine Wahl. Ergreife ich keine Maßnahmen, kann ich ebenfalls meinen Schreibtisch räumen. Mach es mir nicht noch schwerer", flüstert er und kann mir dabei nicht mal in die Augen sehen. "Bitte geh jetzt, Grace. Sonst muss ich den Sicherheitsdienst informieren."
Ich halte inne und brauche ein wenig Zeit, um seine klaren Worte zu realisieren. Schließlich nicke ich schwach und deprimiert und muss wohl akzeptieren, dass er es ernst meint.
"Gut. Dann wars das wohl. Ich hole eben noch meine Sachen von meinem Schreibtisch, dann bin ich weg."
Ich gehe zur Tür, drehe mich aber nochmal zu ihm um.
"Gut zu wissen, was man noch wert ist, wenn man einmal einen Fehler macht."
Ich warte nicht auf eine Antwort seinerseits, drehe mich stattdessen wieder um, hole schnell meine Sachen und verlasse erhobenen Hauptes das Bürokomplex. Doch auch wenn es äußerlich so scheint, dass es mir gut geht, sieht es in mir ganz anders aus. Es fühlt sich an, als würde mir gerade der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Ein zweites Mal innerhalb kürzester Zeit, verliere ich etwas, was mir wichtig ist.
Erst meinen Partner Alec ... Jetzt auch noch meinen Job.
Zuhause versinke ich in Selbstmitleid. Mit einer Tafel Schokolade, einer Tüte Chips und einer Flasche Rotwein setze ich mich auf meine heißgeliebte Terrasse. Der leichte Regen nieselt in mein Gesicht und sorgt dafür, dass mein Pullover und meine Jeans immer mehr durchnässen. Dennoch bleibe ich draußen sitzen. Die innere Kälte, die ich verspüre, ist fast schlimmer als die nasse Kleidung, die mich frieren lässt.
Das einzige, was mich innerlich wärmt, ist der Wein. In Nullkommanichts ist die gesamte Flasche leer. Und ich dementsprechend voll ...
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Disconnect to Connect
General FictionGrace ist Social-Media-Beraterin und ein sogenannter Worcaholic. Durch ihre harte Arbeit hat sie aber auch alles, was sie je wollte. Einen tollen Job mit Aufstiegschancen, eine wunderschöne Wohnung, direkt am Central Park und einen Verlobten, der ih...