Kapitel 3

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People like us ~ Kelly Clarkson

Von Kopfschmerzen geplagt, öffne ich meine Augen. Zumindest versuche ich es, doch die Helligkeit macht es mir nicht gerade leicht. Ein schriller Ton drängt mich dazu, meine Augen wieder zuzukneifen und mich stöhnend zur Seite zu drehen. In der Hoffnung, einfach wieder einzuschlafen, versuche ich nicht mal mehr, mich an das helle Tageslicht zu gewöhnen. Als ich erneut dieses grässliche Geräusch höre, wird mir bewusst, dass es die Türklingel ist. 

„Bitte nicht", jammere ich und versuche mich zu erinnern, was gestern passiert ist.

Ich weiß noch, dass ich Wein getrunken habe. Zu viel ...

„Könntest du bitte die Klingel abstellen?", höre ich einen Mann neben mir. 

Sofort reiße ich meine Augen auf, denn die Stimme kommt mir so unglaublich bekannt vor, dass ich krampfhaft überlege, wie ich sie einordnen soll. Ein nackter muskulöser Rücken dringt in mein Blickfeld und in dem Moment, als er sich umdreht, wird mir bewusst, dass es sich um meinen Ex-Freund Colin handelt.

„Gracy, ernsthaft ... Ich mache gleich selbst die Tür auf, wenn du nicht gehst. Aber dieses Sturmklingeln kann ich so früh am Morgen nicht länger ertragen." 

Erst jetzt wird mir bewusst, dass es durchgehend klingelt. Völlig entgeistert nicke ich, stehe auf, ziehe mir meinen Morgenmantel über meinen nackten Körper und gehe in den Flur - oder in meinem Fall: den Walk of Shame - entlang.

Warum liegt mein Ex-Freund in meinem Bett? Der, der mich andauernd betrogen hat. Mehrfach und ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Bin ich jetzt so tief gesunken, dass ich den Mann angerufen habe, den ich eigentlich abgrundtief hasse?

Jeder Schritt lässt meinen Kopf mehr hämmern. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit an der Tür ankomme und diese völlig desorientiert öffne, sehe ich in die blauen Augen meiner Schwester.

„Oh mein Gott ... Es tut mir so leid", fällt sie mir direkt um den Hals.

„Abigail?"

Ich klopfe ihr auf die Schulter, ehe ich mich aus ihrer festen Umarmung löse und meine Stirn in Falten lege.

„Was machst du denn hier? Und vor allem um diese Zeit? Es ist doch noch voll früh", sage ich verkatert und reibe mir stöhnend über meine Schläfen.

Meinen Kopfschmerzen nach zu urteilen, muss ich gestern offenbar meinen ganzen Vorrat auf einmal geplündert haben. Das würde auch erklären, warum Colin in meinem Bett liegt und ich nicht mal mehr den Hauch einer Ahnung habe, wie er da eigentlich hingekommen ist.

„Süße, es ist bereits mittags. Hast du etwa getrunken?"

Als Antwort zucke ich mit den Schultern und seufze leise.

„Geringfügig. Aber mach dir keine Sorgen. Ich gehe jetzt noch ein bisschen schlafen und dann ist alles wieder gut", versichere ich ihr.

„Nichts ist gut. Ich habe Viktor getroffen und er hat mir erzählt, dass er dich gefeuert hat. Warum hast du denn nichts gesagt?"

Sie schließt die Tür hinter sich und sieht mich mit eindringlichem Blick an, als Colin plötzlich im Türrahmen des Schlafzimmers steht.

„Oh ... Hey Abi", lächelt er, während ich tief im Erdboden versinken möchte und beschämt meine Hände vor meine Augen halte.

Meine Schwester presst ihre Lippen zusammen, wartet bis Colin im Badezimmer verschwunden ist und stemmt ihre Hände in ihre Hüften.

„Was für eine Überraschung, oder? So ging es mir auch, als ich aufgewacht bin", grinse ich geniert und versuche die Stimmung ein wenig zu lockern, was Abi allerdings nur mit einem Augenrollen kommentiert.

„Willst du vielleicht einen Kaffee? Mir platzt gleich der Kopf."

„Und mir platzt gleich die Hutschnur", kontert sie. „Sag mal ... hast du beim letzten Mal nichts gelernt? Der Typ ist link, hinterhältig und ..."

„Und verdammt heiß ", beende ich ihren Satz und gehe in die Küche, wo ich auf den Knopf der Kaffeemaschine drücke, mich hinsetze und mir mit meinen Händen durch mein Gesicht streiche.

„Ach bitte ... Er hat dich verarscht. Wehe, da läuft mehr, sonst streike ich als Schwester", sagt sie mit ernstem Tonfall und lässt sich ebenfalls mit verschränkten Armen auf einen der Stühle plumpsen. Ich hebe meinen Kopf und schnaube angespannt.

„Komm schon. Wir hatten ein bisschen Spaß und das wars. Ich will ihn nicht gleich heiraten und außerdem kann ich mich nicht mal mehr daran erinnern, wieso er überhaupt hier ist."

Auch wenn mir diese Sache vor Abi schon etwas unangenehm ist, kann ich es jetzt sowieso nicht mehr ändern. Zudem bin ich single und im Prinzip ist auch nichts dabei. Zumal ich auch einen guten Grund hatte, mal einen Abend lang abzuschalten und alles zu vergessen. Man wird ja nicht jeden Tag gefeuert.

Als wir Colin über den Flur laufen hören, stellen wir unser Gespräch ein. Nur in Boxershorts gekleidet, stellt er sich an die Fensterbank und verschränkt grinsend seine Arme vor seiner braungebrannten Brust. Sein Bizeps ist in den letzten Jahren gewaltig gewachsen und seine dunklen Haare sind wesentlich kürzer als damals. Noch immer sieht er fabelhaft aus. Aber wie das so oft ist ... Die hübschen Männer hat man leider nicht für sich alleine.

„Und? Bekomme ich auch einen Kaffee?", fragt Colin, woraufhin sich Abi einmischt.

„Grace, hast du einen ToGo-Becher für Colin? Denn ich muss dringend etwas mit dir besprechen."

Schmunzelnd stehe ich auf, schlurfe ins Schlafzimmer und drücke Colin kurz darauf ein bisschen Kleingeld sowie seine Klamotten in die Hand.

„Sorry, aber du hörst es ja. Wir haben Dringendes zu besprechen. Hol dir bitte unterwegs einen Kaffee beim Bäcker, okay?"

Ziemlich perplex sieht er zwischen mir und einer zufrieden grinsenden Abigail hin und her. Er stottert, schnappt sich seine Klamotten und zieht sie in Windeseile an.

„Ja, ich habe sowieso noch einen Termin."

So schnell wie er verschwunden ist, kann ich gar nicht gucken. Als die Tür ins Schloss fällt, setze ich mich wieder an den Tisch zu meiner Schwester. Meine Stirn lasse ich auf das harte Holz fallen und lege meine Hände, schützend vor allen Problemen, auf meinen Kopf.

„Ich habe alles versaut, Abi. Das mit der Kündigung ist allein meine Schuld."

Ihr Blick wird sofort ernst.

„Es tut mir leid, was passiert ist. Nachdem mir dein Boss von der Kündigung erzählt hat, habe ich aus den Nachrichten alles weitere erfahren. Wie geht's dir jetzt damit?"

Sie weiß, wie sehr ich meinen Job geliebt habe. Deswegen ist diese Frage eigentlich unnötig. Wie soll ich sie auch beantworten? Es geht mir natürlich nicht gut.

„Vielleicht würde dir eine Pause mal gut tun", schlägt sie vor.

Ihre Worte lassen mich hellhörig werden. Ich presse meine Lippen zusammen und schnaube.

„Eine Pause? Ich brauche keine verdammte Pause, Abi. Ich brauche einen Job. Meinen alten Job, um genau zu sein. Ich drehe noch durch, wenn ich nichts zu tun habe."

„Ich weiß", versucht Abi mir gut zuzureden, doch aus mir sprudelt es nur so heraus.

„Du weißt gar nichts! Ich habe alles für meinen Job gemacht. Ich habe ihn immer an erste Stelle gesetzt. Meine Beziehung ist in die Brüche gegangen. Die Hochzeit geplatzt."

Wut und gleichzeitig Angst machen sich in mir breit. Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen. Sofort gehe ich ins Badezimmer und schaue in den Spiegel. Meine Augen glitzern ... Sie sind feucht.

Als Abi neben mir erscheint, drehe ich mich mit ungläubigem Blick zu ihr um.

„Siehst du das? Tränen, Abi. Tränen ..."

Ich schließe meine Augen und spüre, wie etwas Nasses an meiner Wange entlang perlt. Dieses Gefühl habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt. Auch wenn es vielleicht niemand verstehen kann ... für mich bedeutet es so viel. Jahrelang dachte ich, ich sei nicht normal.

„Ich kann weinen", freue ich mich. „Ich bin wohl doch kein gefühlloses Monster. Siehst du das?"

Mit jeder Sekunde werden es mehr Tränen, die unaufhaltsam aus mir herausströmen. Meine Gefühle fahren gerade Achterbahn und übermannen mich, sodass ich meine Hände vor mein Gesicht lege und schlagartig auf den Boden sinke. Schluchzend und weinend, weil ich alles verloren habe, was mir etwas bedeutet hat.

Ich spüre, wie Abi sich neben mich setzt und tröstend ihren Arm um mich legt.

„Egal wie schwer es gerade ist, Grace. Ich bin deine Schwester und immer für dich da."

Meine Schwester lächelt mich aufmunternd an und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Ich glaube, das was du jetzt brauchst, ist Abstand. Einfach mal weg. Raus aus der Stadt, die niemals schläft. Dorthin, wo du zur Ruhe kommen kannst. Ohne diesen Druck, ständig erreichbar sein zu müssen."

Ihre Worte lassen mich hellhörig werden. Schniefend runzel meine Stirn.

„Was meinst du denn damit? Ich kann doch hier nicht so einfach weg."

„Warum denn nicht? Dir tut es bestimmt gut, wenn du mal auf andere Gedanken kommst. Außerdem hast du gerade sowieso keinen Job. Ich bin doch ab nächster Woche in Wyoming in einer süßen kleinen Stadt namens Jackson."

Verzweifelt versuche ich mich daran zu erinnern, ob sie mir davon erzählt hat, aber ich kann mich einfach nicht entsinnen, jemals davon gehört zu haben.

„Am Snake River", fügt sie hinzu, doch bei mir macht es einfach nicht Klick.

Ohne zu fragen, scheint sie mir meine Verwirrung anzusehen.

„Du weißt doch, dass ich dort über den Aufbau eines neuen Hofs schreibe. Für alleinerziehende Mütter, die in Not geraten sind. Und dabei selbst mithelfe. Ein riesen Projekt", erklärt sie mir.

Ich nicke aus Höflichkeit, auch wenn ich immer noch nicht wirklich weiß, wovon sie spricht. Ganz sicher hat sie mir davon erzählt, aber zu meiner Verteidigung muss ich wohl sagen, dass ich einfach zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt war.

„Das klingt wirklich sehr ... aufregend. Aber ich glaube, das ist nichts für mich. Du weißt, wie sehr ich den Trubel brauche. Auf dem Dorf fühle ich mich ganz sicher nicht wohl."

„Ich werde nicht hier sein, um dich trösten zu können, Grace. Wenn noch ein Rückschlag kommen sollte."

Zugegeben, es läuft gerade nicht rund und die Tatsache, dass ich mich auf meinen Ex eingelassen habe, zeigt vielleicht, dass ich momentan etwas unzurechnungsfähig bin ... Doch sie muss nicht auf mich aufpassen. Und ich werde auch ganz sicher nicht bei diesem Hof helfen. Dafür bin ich einfach nicht der Typ.

„Ich komme klar, Abi. Ich bin schon groß und kann auf mich selbst aufpassen. Außerdem würde ich dich nur von deiner Arbeit abhalten."

„Wie du meinst", sagt sie, nimmt ihre Tasche und geht zur Haustür.

„Meld dich, wenn was ist. Ich muss jetzt noch ein bisschen was vorbereiten."

Sie verschwindet, während ich aufstehe und aus dem Fenster sehe. Nach kurzer Zeit kann ich beobachten, wie sie aus dem Haus geht und die Straße entlang läuft. Ihre Haare hat sie zu einem zerzausten Dutt gebunden. Dazu trägt sie eine helle Jeans, die am Bein weit geschnitten ist und ein schwarzes T-Shirt der Band ACDC.

So würde ich niemals herumlaufen ... Wir waren schon immer unterschiedlich. Sie ist Journalistin und eher der lässige Typ. Der Umwelt verbunden. Ihr Musikgeschmack ist in meinen Augen grenzwertig. Ich hingegen habe gerne die Kontrolle und kann es nicht leiden, wenn etwas nicht geplant ist. Bei mir hat alles seine Ordnung. Was man an meinem Äußeren auch erkennen kann. Wir sind grundverschieden und doch verstehen wir uns gut.

Aber ... Sie auf diesen Hof begleiten?

Bei der Vorstellung muss ich lachen. All die Tränen von vorhin sind vergessen. Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen. Da bin ich sicher ... 

*** 

Mitten in der Nacht wache ich schweißgebadet auf. Mein Körper zittert, mein Mund ist staubtrocken und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich quäle mich aus dem Bett und stütze mich mit meinen Händen an der Wand ab. Langsam gehe ich vorwärts und schaffe es irgendwie in die Küche. Meine Sicht ist verschleiert und doch entdecke ich eine alte Brötchentüte von vor ein paar Tagen. Ich schüttel sie aus, japse immer wieder nach Luft und führe sie anschließend direkt an meinen Mund, um ein- und auszuatmen. Immer wieder tief ein ... und tief aus.

Doch noch immer fühlt sich meine Kehle wie beklemmt an.

Tränen der Angst steigen in meine Augen. Ich habe Angst davor, dass ich alleine bin. Versagt habe. Und verdammt nochmal keine Luft mehr bekomme.

Mit jeder Sekunde versuche ich meine Atmung zu kontrollieren, laufe mitsamt der Tüte ins Schlafzimmer zurück und setze mich auf mein Bett. Panisch greife ich nach meinem Handy und wähle die Nummer von Abi. Ich will nicht länger alleine sein und brauche sie jetzt einfach. Und auch wenn es mitten in der Nacht ist, weiß ich, dass ich auf sie zählen kann.

Es klingelt einige Male, ehe ich ihre verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung höre.

„Grace? Ist was passiert?"

Ein Krächzen entweicht meiner Lunge, woraufhin sie mir gut zuredet und mir verspricht, in wenigen Minuten da zu sein. Sie wohnt relativ nah bei mir, worüber ich gerade ziemlich froh bin. Mit dem Taxi dauert die Fahrt nur wenige Minuten.

Während ich weiterhin nach Atem ringe und auf sie warte, öffne ich die Haustür einen Spalt, damit sie zu mir kommen kann. Als ich mich daraufhin an die Wand meines Flurs lehne, sinke ich auf den Boden. Meine Arme schlinge ich um meine Beine. Meinen Kopf lege ich auf meine Knie.

Eng umschlungen und vollkommen hilflos und verlassen hocke ich wie ein Häufchen Elend in meiner Wohnung.

So kenne ich mich überhaupt nicht. Das bin nicht ich ...

Nichts ist mehr von der selbstbewussten Frau übrig, die ich einst war.

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