Kapitel 4

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Flag ~ Sunrise Avenue

„Grace!"

Durch die laute und aufgebrachte Stimme von Abi schrecke ich zusammen. Ich hebe meinen Kopf ein Stückchen an, als sie auch schon in meine Wohnung gestürmt kommt. Zitternd und immer noch schwer atmend sehe ich zu ihr hoch, woraufhin sie ihre Tasche von ihrer Schulter gleiten lässt und sich fürsorglich neben mich auf den Boden kniet.

„Was machst du denn für Sachen?", fragt sie besorgt, bevor sie mich auch schon in ihre Arme zieht und mir beruhigend über den Rücken streicht.

„Ich ..."

Meine Stimme ist kraftlos und ich schaffe es nicht, auch nur einen geraden Satz herauszubekommen. Stattdessen bricht plötzlich alles aus mir heraus. Mein Körper resigniert. Ich fühle mich schwach und spüre wie mir unaufhaltsam immer mehr Tränen über meine Wangen laufen.

Ich bin eine Versagerin. Auf ganzer Linie. Dass mein Leben zerstört ist, ist einzig und allein meine Schuld. Alec wäre vielleicht noch bei mir, wenn ich an der Hochzeit einfach mal das Handy ausgeschaltet hätte. Und mein Kopf war scheinbar beim Termin mit Christian auch nicht ganz da. Sonst wäre dieser Fehler doch niemals passiert.

Tränenüberströmt versuche ich meine Gedanken zu ordnen und mit Abi zu reden, doch es kommt nur Kauderwelsch heraus.

„Schhht ... alles wird gut."

Sie umhüllt mich mit ihrer Geborgenheit und mit ihrer Wärme und schafft es, mich innerhalb weniger Minuten zu beruhigen.

Während sich meine Augen dick und geschwollen anfühlen und schwer sind, sitze ich kauernd auf der Couch und nippe an dem heißen Kräutertee, den meine Schwester mir zubereitet hat.

„Du hast mir eine ganz schöne Angst eingejagt, Grace."

Nicht nur sie hatte Angst, sondern auch ich. Denn so kenne ich mich nicht.

„Es tut mir leid, Abi. Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit mir los ist. So bin ich doch eigentlich gar nicht. Ich möchte wieder die alte Grace sein."

„Manchmal ist es besser, wenn man Dinge, Menschen oder auch Eigenschaften hinter sich lässt, Süße. Du siehst doch, wohin das führt."

Seufzend lehne ich mich zurück. Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll. Es ist, als wäre ich ausgelaugt und müde.

„Ich sehe dir doch an, dass es dir schlecht geht. Nicht nur jetzt gerade. Sondern grundsätzlich. Wann warst du das letzte Mal so richtig glücklich?"

Ich zucke mit den Schultern. Eigentlich war ich richtig glücklich, als ich den Beitrag veröffentlicht habe. 

Oder war es eher Stolz?

„Ich weiß, dass du gerade an deine Arbeit denkst ... Na gut, wann warst du das letzte mal glücklich in deinem Privatleben?"

Nachdenklich presse ich meine Lippen zusammen. Mit Alec ... Doch wenn ich ganz tief in mein Inneres schaue, ist auch dies wohl eine Weile her gewesen. Als wir uns kennengelernt haben. Die Anfangszeit ...

Hinterher war es für mich ja auch fast wie ein Geschäft, erst jetzt wird es mir richtig bewusst. Wir hatten Termine ausgemacht, an denen wir ein Date hatten, welches ich geplant habe. Weil ich meistens früh raus wollte, um zu arbeiten, ging das Date oft nicht lange. Meistens war alles durchgetaktet. Sogar der Sex und selbst da musste ich die Kontrolle über alles haben. Ich wollte oben sein und wenn nicht, habe ich trotzdem den Takt vorgegeben.

„Oh mein Gott ... Ich bin ein Kontrollfreak."

Ich lasse meinen Kopf in meine Hände fallen, woraufhin Abi mir einen Kuss auf meinen Scheitel gibt und seufzt.

„Ja, der bist du. Aber wir bekommen das in den Griff. Ich helfe dir, Süße."

Sie macht eine kurze Pause und holt tief Luft.

„Du kommst mit nach Wyoming. Keine Widerrede. Und zwar ohne Handy und den ganzen Social Media Kram."

Ohne Handy? Kein Social Media?

Diese Worte bringen mich doch tatsächlich zum Lachen. Schön, dass sie in dieser Situation noch Witze macht.

„Ja klar ... Und danach gehe ich in ein Kloster und werde Nonne", gebe ich grinsend von mir.

Doch so wie Abi mich dabei ansieht, scheint sie ihre Worte offenbar ernst zu meinen.

„Das war kein Witz, Grace. Dein Handy bleibt hier und du nutzt die Zeit in Jackson, um mal wieder zu dir zu finden. Wenn du so weitermachst, wie bisher, dann kippst du irgendwann noch um. Und das lasse ich nicht zu!"

Schnaubend wische ich über mein Gesicht und vergrabe meine Hände in meinen Haaren.

„Von wie lange reden wir hier?", frage ich, ohne sie dabei anzusehen. Insgeheim hoffe ich, dass es maximal drei oder vier Tage sind, doch so wie ich meine Schwester kenne, sind es am Ende zwei Wochen.

„Also zunächst sind es erstmal vier Wochen", entgegnet sie trocken.

Bitte was? Habe ich richtig gehört? Vier Wochen?

„Es kommt aber darauf an, wie lange sie dort Unterstützung brauchen. Vielleicht auch noch etwas länger."

Noch länger?

„Jetzt freu dich doch mal. Das wird toll."

Da bin ich ja mal gespannt ... Doch Freude sieht definitiv anders aus. 

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