3. Brief

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Liebe Cornelia

Ich habe mich heute Morgen bei Sonnenaufgang vor die Haustüre gesetzt, habe mit Freude auf Deinen Brief gewartet.

Die Luft roch nach Frühling und die Sonne strahlte scheu hinter den Bäumen hervor, als ich endlich die Postkutsche um die Ecke biegen sah. Der Postbote warf mir die Post entgegen und ich wühlte sofort in dem Papierkram, so wie ich es seit drei Tagen jeden Morgen gemacht hatte.

Deine Handschrift sprang mir ins Auge und ich liess alles andere links liegen.

Cornelia, Du hast mir Tränen in die Augen getrieben. Es fühlt sich toll an, vor sich hinzukritzeln in dem Wissen, dass die Person am anderen Ende alles in ihr Herz aufsaugen wird.

Denkst Du, ich hätte gedacht, dass von einem Tag auf den anderen, ein Brief mein ganzes Leben, mein Denken und mich selbst verändern würde? Nie im Leben.

Das Gefühl, das Du beschreibst, war mir unbekannt. Nie habe ich mich zu einem Menschen verbunden gefühlt. Ich wurde einfach zu oft enttäuscht.

Doch jetzt bist plötzlich Du da. Diese Vertrautheit, die mein Leben lang gefehlt hat.

Und weisst Du was?

Bis jetzt hatte ich nie einen Grund, an Schicksal zu glauben. Für mich waren das alles Hirngespinste der naiven Menschen. Doch Du hast meine Meinung geändert.

Vielleicht ist es auch meine Verzweiflung, oder aber mein Herz glaubt es wirklich. Schicksal hat uns zusammengebracht.

Und oh Cornelia, Du vermagst es, meine Wunden zu heilen, wie es nie ein anderer Mensch geschafft hatte.

Wie unglaublich es sich anfühlt, jemanden sicher an seiner Seite zu wissen. Du weisst nicht, wie sehr ich dem Schicksal dankbar bin!

Die Geschichte Deines Cellos hat mich abermals zu Tränen gerührt. Vielleicht, weil alles so vertraut schien. Vielleicht, weil Deine Geschichte Erinnerungen vorgerufen hat.

Und Du sollst Diejenige sein, die meine Geschichte erfährt und für immer in ihrem Herz behält.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das aufgestellt und fröhlich durch die Welt marschierte. In ihrem Zuhause war alles schön edel und golden und die Eltern versorgten sie gut. Ihr fehlte es an nichts. Tag für Tag konnte das Mädchen mit ihren Freundinnen spielen.

Als die kleine Lucy an ihrem vierten Geburtstag in ihrem viel zu grossen Bett aufwachte, standen ihre Eltern lächelnd am Rand und küssten sie liebevoll auf die Stirn.

„Unsere grössten Glückwünsche, Prinzessin." Und so fühlte sich Lucy in diesem Moment auch. Wie eine kleine Prinzessin.

Die Eltern nahmen sie an der Hand und führten sie in einen ihr eigentlich verbotenen Bereich des Anwesens. Es war ein Zimmer, das Lucy noch nie betreten hatte.

Mutter und Vater öffneten die Tore und Lucy fand sich in einer Traumwelt wieder. Hohe goldene Säulen ragten an die Decke, der Marmorboden glänzte im Schein des riesigen Kronleuchters, der in der Mitte der Decke befestigt war.

Der Raum war leer. Nur ein bezauberndes Instrument stand auf einem kunstvollen Ständer mitten im Raum.

Lucy weitete ihre Augen und staunte nicht schlecht, als sie mit ihren kleinen Händchen das raue Holz des Cellos berührte, die Saiten klingen liess und sich ganz hingab.

Die Eltern standen lächelnd und zufrieden im Eingang und beobachteten ihre auf Anhieb musikalische Tochter. In diesem Moment ahnten sie noch nicht, dass Lucy bald an nichts anderes mehr denken würde als an ihr Cello und sie der festen Überzeugung war, einmal Profi-Cellistin zu werden.

1001 Briefe - 150-FollowerspecialWo Geschichten leben. Entdecke jetzt