Liebe Lucy,
Dein letzter Brief hat mich wirklich aufgemuntert, mir den Glauben, dass alles gut wird noch mehr wiedergegeben. Eigentlich gibst Du ihn mir ja mit jedem Brief wieder, mit jedem kleinen Wort, das Du mit schwarzer Tinte auf Pergament schreibst.
Doch dieses Mal war es anders. Du muntertest mich mit deiner guten Laune auf und nicht mehr nur durch deine Existenz.Denn ich habe das Gefühl, liebste Lucy, Dir geht es besser. Und zwar im Sinne der Akzeptanz. Ich bin vor Deinem Brief nicht auf die Idee gekommen, dass es mir besser gehen könnte, wenn ich meine jetzige Situation akzeptierte. Doch ich habe darüber nachgedacht - in den langen Stunden staubiger Einsamkeit, in denen ich in meinem Zimmer saß und voller Hass in den schönen Frühling draußen blickte - in diesen Stunden bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht erstmal besser ist, zu akzeptieren. Ihn zu akzeptieren.
Ich habe Dir ja schon einmal etwas über den Glauben an das Schicksal geschrieben. Und dass ich glaube, dass es keine Zufälle gibt.
Ich habe mich mit dem Thema, kombiniert mit meiner jetzigen Situation auseinandergesetzt. Vielleicht soll ja alles so sein, wie es gerade ist? Denn ist nicht jede Krise dazu da, gestärkt aus ihr herauszugehen und aus ihr zu lernen?
Folgt nicht auf jede Nacht ein Tag, auf jeden Regenschauer Sonnenschein, auf jeden Winter ein warmer Frühling?
Ich denke, die Nacht würde immer länger werden, je mehr man sich gegen seine Situation wehrt und wenn man dann im Selbstmitleid vollkommen ertrunken ist, wird der Tag gar nicht mehr kommen.
Doch ich möchte, dass er kommt! Ich sehne mich so sehr nach meinem Cello, doch mehr sehne ich mich nach meiner alten unbeschwerten Fröhlichkeit, nach einem Herzen, das leicht ist und nicht von schwarzer Trauer gegen meinen Brustkorb gepresst wird.
Wenn ich jetzt akzeptiere, dass alles so ist, wie es ist, werden sich vielleicht neue Wege ergeben, ich werde irgendeine Lösung finden, für alles.
Wenn ich meinen zukünftigen Gatten mit offenen Armen willkommen heiße, wird er mir vielleicht die Möglichkeit geben, mein Cello zurückzubekommen.
Wenn ich anstatt mich immer wieder gegen meine Eltern aufzulehnen, einmal richtig mit ihnen spreche, wird es vielleicht in der Zukunft mehr Möglichkeiten für mich geben.Wenn ich jetzt, anstatt um das zu trauern, was ich nicht habe, mich über das freue, was ich habe, wird vielleicht der Frühling auch in meinem Herzen ankommen und das alte Lächeln wieder auf meinen bleichen Wangen erscheinen.
Oh ja, ich habe mir das schön zusammengebastelt, nicht? Meine Texte mögen vielleicht überzeugt und hoffnungsvoll klingen, aber ich brauche noch sehr lange, bis ich meine Situation wirklich akzeptieren kann.
Gestern war ich im Garten. Dachte wohl, ich könne alles wie früher machen, unbeschwert zwischen den Blumen umherspringen. Doch es gibt einen Haken an der Sache. Ich bin erwachsen geworden.
Die ganzen Ereignisse des letzten Jahres haben mich von einem naiven kleinen Mädchen in eine ernste junge Frau verwandelt. Ich habe es mir nie eingestanden. Bis ich gestern im Garten herumstand und nicht wagte, mich zu bewegen aus Angst, mein Kleid ginge kaputt und die Tropfen von Frühlingsregen, die an den Blättern hingen, würden meine Schminke und Frisur zerstören.Es ist ein seltsames Gefühl, Empfindungen zu entdecken, die man noch nie in seinem ganzen Leben verspürt hat. Ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt und das ist das Gefühl, vor dem es mich am meisten bangt. Ich bin anders geworden, Lucy, ich bin ein schrecklicher Mensch geworden. Kennst Du diese Gefühle?
Den Rest des gestrigen Tages verbrachte ich dann tatsächlich damit, meinen Eltern bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Ja, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Doch Deine Erfahrungen mit Leonardo haben mir Mut gemacht. Und ich möchte akzeptieren, was das Schicksal mit mir vorhat, denn ich glaube fest daran, dass alles gut wird.
Weißt Du, ich habe mir Deinen Brief bestimmt zehnmal durchgelesen, bis ich mir sicher war, dass das, was Du da schriebst, Wirklichkeit ist. Du kommst nach Berlin! Dieser Gedanke war die ganze Zeit wie ein glühendes Licht in meinem Herzen.
Ich begann zu fantasieren in der letzten schlaflosen Nacht. Wie ich Dich endlich in die Arme schließen, Dein Gesicht sehen, Deine Stimme hören kann. Und vielleicht, liebe Lucy, können wir ... mit geliehenen Celli...? Ich wage es nicht, diesen unrealistischen Gedanken auch nur zu Ende zu denken. Aber es wäre die Erfüllung eines Herzenswunsches und man darf ja auch mal träumen dürfen.
Fakt ist allerdings: Wenn Du und Leonardo kommen, werde ich schon geheiratet haben und in einer Villa am anderen Ende der Stadt leben. Und ich weiß nicht, wie mein zukünftiger Gatte mit allem umgehen würde. Hoffen wir das Beste.
Ich sende Dir ganz viel Liebe.
PS: Als ich mir mein Geschriebenes durchgelesen habe, ist mir noch ein anderer Gedanke gekommen. Ist dieses Akzeptieren nicht gleich wie Aufgeben? Würde ich dadurch, dass ich mein Leben akzeptiere, nicht auch das Kämpfen aufhören? Denn Ungerechtigkeiten existieren ja weiter und manche kann ich nicht akzeptieren und auch nicht durch Akzeptieren zum Guten ändern. Doch ich denke, bei manchen Sachen klappt es. Ich weiß nicht. Was meinst Du?
DU LIEST GERADE
1001 Briefe - 150-Followerspecial
Ficção HistóricaZwei Mädchen - Ein Schicksal Zwei Mädchen - Eine Leidenschaft Zwei Mädchen - Ein Traum Lucy und Cornelia sind müde von ihrem Alltagsleben, sind wütend auf die Welt und ihre Familie. Das Einzige, was sie zurück wollen, ist ihre Vergangenheit. Ihre Li...