4. Brief

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Liebe Lucy,

fünf Tage habe ich nun auf Deinen Brief gewartet. Habe mir den anderen bestimmt fünfhundertmal durchgelesen, wenn es mir schlecht ging. Es ging mir danach immer besser, weil ich spüre, dass Du für mich da bist und an mich denkst.

Und dann - die Postkutsche mit Deiner Antwort! Ich hatte zwischendurch tatsächlich Zweifel, ob Du überhaupt antwortest. Ob Dich mein anderer Brief vielleicht abgestoßen hat. Ob er Dich nicht erreicht hat. Ich habe da leider Erfahrungen mit. Aber Du hast geantwortet.

Ich saß auf meiner Lieblingsbank im Park und hörte dem Wind zu beim Flüstern, dem Bach beim Rauschen - und las Deinen Brief.
Ich lächelte. Ich strahlte. Ich weinte. Ich seufzte. Ich konnte durchatmen. Ich erkannte, dass ich nicht alleine bin.

Deine Geschichte hat mich sehr berührt, Lucy. Und sie hat mich traurig gemacht. Wie grausam Menschen doch sein können! Wenn ich mir vorstelle, wie Dein Vater das Cello verbrennt, schüttelt es mich. Warum will jeder über unser Leben bestimmen? Warum können wir nicht das machen, was uns Freude macht? Warum werden wir zu Dingen gezwungen, die uns innerlich zerstören? Ich zitterte vor Wut und Unglauben.

Mein Cello ist jetzt seit fast zwei Jahren nicht mehr bei mir. Ich vermisse es furchtbar. Meine Hände kribbeln vor dem Verlangen, über das polierte Holz zu streichen, den Bogen mit einer flüssigen Bewegung des Handgelenks über die zart klingenden Saiten zu führen und meine Ohren fühlen sich an wie mit Watte gefüllt, seit sie die zarten Töne nicht mehr vernehmen.

Ich hatte schlimme Albträume, das ganze letzte Jahr. Habe viel geweint. Es gab Tage, an denen ich stundenlang vor der Musikschule saß und zu dem oberen Fenster starrte, aus dem ganz leise Cello- und Geigenklänge tönten.

Manchmal hatte ich solche Sehnsucht, dass mein Herz fast zersprang vor Schmerz. Manchmal aß ich tagelang nichts und verschmähte jegliches Vergnügen. Hatte verlernt zu genießen.

Die Cornelia von früher, das kleine pummelige Mädchen mit dem befleckten Kleidchen, das sorglos durch die Welt hüpfte, auf Bäume kletterte und Räder schlug, bis ihm schwindelig war, dieses Mädchen gab es nicht mehr.

Und meine Eltern waren nur da, um zu schimpfen.

"Hör endlich auf, an deine naiven Kinderträume zu glauben!"
"Du wirst sowieso bald verheiratet."
"Dein Cello Ist Vergangenheit"
"Du willst doch nicht dein Leben zerstören."
"Frauen machen keine Musik!"

Jedes Wort hat mich noch mehr verletzt und das Feuer in mir weiter geschürt. Und ich glaube, das wäre nicht so weitergegangen, wenn Du nicht wärst und mir schriebest, mir nicht wieder einen Sinn überhaupt zu leben geben würdest. Meine innerlichen Wunden durch Deine Worte heilen würdest.

Ich bin Dir sehr dankbar, Lucy. Für alles.

Heute Morgen kündigte mein Vater an, dass ich heiraten werde, sobald ich siebzehn bin. Ich habe also noch zwei Monate. Allerdings wird die Verlobung früher stattfinden, schon morgen soll ich meinen zukünftigen Gemahl treffen. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, weiß nur, dass er reich und fast dreißig ist.

Ich möchte ihn nicht treffen. Ich möchte ihn nicht heiraten. Ich möchte nicht wissen, wieviel Geld er hat und wie groß sein Haus, wie ausladend sein Garten ist.

Ich möchte mein Cello zurück.

Vielleicht reagiere ich voreilig. Vielleicht ist er ja nett und ein toller Mann. Aber ich weiß nicht, ob ich ihm die Liebe geben könnte, die er verdient. Ich habe das Gefühl, gar nicht mehr lieben zu können. Jedenfalls keine Menschen.

Ich wünsche mir so sehr, dass dieses Gefühl mich wieder verlässt, ich eine normale Frau werde. Aber immer, wenn ich das denke, erschaudere ich und mein Herz zerspringt fast vor Sehnsucht nach meinem Cello. Es geht nicht und das weiß ich genau.

Wie schon gesagt, ich bin sechzehn. Ich glaube, damit haben wir das gleiche Alter! Zufall? Glück? Schicksal?
Wer weiß...

Ich sende Dir eine Umarmung.

Ich sende Dir eine Umarmung

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1001 Briefe - 150-FollowerspecialWo Geschichten leben. Entdecke jetzt