ROBYN I

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Als ich an diesem Morgen zur Schule fuhr, hatte ich ein komisches Gefühl in der Magengegend. Ich schob es auf die Aufregung. Heute war der erste Schultag.
Ich ging ins Schulgebäude. Und dann sah ich sie. Mit einem Gesicht, das ich nie vergessen konnte. Dass ich sie anstarrte, merkte ich erst, als sie mich ansprach.
"Ist etwas?", fragte sie.
Sie wagte es mich so unverblümt anzusprechen? Das würde sie noch bereuen.
"Pass auf deinen Ton auf", sagte ich. Dann verschwand ich im Lehrerzimmer.
Sofort kam Karo auf mich zu. Sie war nicht nur meine Kollegin sondern auch meine beste Freundin.
"Hast du schon gehört? Wir bekommen eine neue Schülerin", sagte sie ganz aufgeregt.
Gehört nicht, aber gesehen, dachte ich verbittert. Ich betete bloß, dass sie nicht in meinem Unterricht sitzen würde. Aber dieser Gefallen wurde mir nicht getan. Ab sofort musste ich sie in drei Fächern unterrichten. Was bedeutete, dass ich sie jeden Tag zu Gesicht bekommen würde.
"Na toll", entfuhr es mir genervt.
Überrascht sah Karo mich an. "Sei lieb zu ihr", sagte sie.
Ich grinste hämisch. So funktionierte für mich kein Unterricht. "Ich bin hier, um ihr was beizubringen und nicht um ihre beste Freundin zu werden", sagte ich.
Dann packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg zur ersten Unterrichtsstunde.
Ich schloss die Klassenzimmertür auf und ließ meine Tasche geräuschvoll auf mein Pult fallen. Es hatte den gewünschten Effekt. Meine Schüler zuckten zusammen. Sie setzten sich sofort auf ihre Plätze und gaben keinen Mucks mehr von sich. Ich ging die Anwesenheitsliste durch. Alle Schüler antworteten auf ihren Namen mit "Ja". Außer die neue Schülerin.
"Noelle Hartman", las ich vor.
"Ich heiße Nelly", sagte sie.
"Hier steht Noelle. Also werde ich dich so nennen", sagte ich. Ich nannte meine Schüler nie bei ihrem Spitznamen und ich würde ganz bestimmt jetzt nicht damit anfangen. Ich war nicht die Kumpel-Lehrerin. Das war eher Karos Ding.
"Ich reagiere aber nur auf Nelly", sagte sie trotzig.
"Dann werde ich dir wohl für jede Stunde eine 6 geben müssen", sagte ich.
Wütend blinzelte sie mich an. Ich ließ mich davon nicht beirren und fuhr mit dem nächsten Namen fort.
"Lilli Mertens"
Den Rest der Stunde saß Noelle schmollend auf ihrem Platz. Ich war froh, als die Stunde endlich vorbei war und ich ihren Anblick nicht weiter ertragen musste. Blöderweise hatten wir in der 8. Stunde erneut das Vergnügen. Blöderweise hatte ich mich wegen des Lehrermangels bereitschlagen lassen eine Trainerlizenz zu erwerben und musste nun so auch Sport unterrichten.
Natürlich war Noelle gut in Sport und das wusste sie ganz genau. Sie strotzte nur so vor Selbstsicherheit.
Als sie dann auch noch Nico, einen schwächeren Schüler, auslachte, weil er beim Badminton am Ball vorbeischlug, platzte mir der Kragen.
"Noelle, auf die Bank!", sagte ich.
Sie reagierte nicht. Sie tat, als hätte ich nichts gesagt.
"Sofort!", sagte ich mit Nachdruck.
Noelle bewegte sich noch immer nicht. Der gesamte Sportkurs hatte aufgehört zu spielen. Stattdessen starrten sie zwischen Noelle und mir hin und her.
"Entweder du setzt dich jetzt auf die Bank oder ich bestelle deine Eltern zu einem Gespräch in die Schule", sagte ich.
Sofort wich sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht. Wortlos setzte sie sich auf die Bank. Ich grinste in mich hinein. Die Eltern-Karte schien bei ihr hervorragend zu funktionieren. Das war gut zu wissen.
"Hab ich gesagt, dass ihr aufhören dürft zu spielen? Oder wollt ihr auch alle eine 6?", fragte ich. Ich schrie es beinahe.
Sofort rannten meine Schüler zurück auf die Felder.
Als ich nach der Stunde auf dem Weg zum Lehrerzimmer war, hörte ich Noelle und Lilli reden. "Was ist eigentlich ihr beschissenes Problem?", fragte Noelle. Ich vermutete, dass es um mich ging.
"Sie ist richtig streng. Nicht umsonst wird sie die Giftkröte genannt", sagte Lilli.
Giftkröte? Den hatte ich bisher noch nicht gehört. Ich war bei meinen Schülern nicht sonderlich beliebt. Deshalb hatten sie mir besonders nette Spitznamen verpasst. Mein Favorit war Satansschlampe.
"Schon ihr Name. Als wäre sie Analphabetin. Mayr. Da fehlt doch ein Buchstabe", sagte Noelle.
Sollte ich noch einen Zweifel daran gehabt haben, dass es um mich ging, spätestens jetzt war er ausgeräumt.
"Du solltest aufpassen, wer zuhört, Fräulein Hartman mit einem n", sagte ich.
Die beiden wirbelten herum, als sie meine Stimme hörten. Lilli lief sofort rot an, während Noelle mich frech angrinste.
"Haben Sie so wenig Selbstbewusstsein, dass es Sie stört, was andere über Sie denken?", fragte Noelle. Ihre Augen blitzten provokant.
Und dann riss mir der Geduldsfaden. Ich machte zwei Schritte auf sie zu. Ich stand nun so dicht vor ihr, dass unsere Gesichter kaum 1 Zentimeter voneinander entfernt waren.
"Es reicht mir mit dir! Du benimmst dich ab sofort respektvoll oder du lernst mich kennen! Verstanden?", zischte ich.
Zu meiner großen Überraschung nickte sie.
Ich ließ sie stehen und ging ins Lehrerzimmer. Erschöpft ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen. Dieses Mädchen raubte mir den letzten Nerv.
"Wie findest du die Neue? Sie ist nett und hilfsbereit, oder?", fragte Karo.
"Nett und hilfsbereits?", fragte ich ungläubig. "Sie ist vorlaut, respektlos und viel zu sehr von sich selber überzeugt", sagte ich.
"Sie geht mir furchtbar auf die Nerven", fügte ich noch hinzu.

Geheimnisse einer LehrerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt