Aus heiterem Himmel kitzelte es mich plötzlich in meiner Handinnenfläche. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Noelle ihren Daumen bewegte.
"Noelle, bist du wach?", flüsterte ich.
Dann, ganz langsam öffnete sie ihre Augen. Mir fiel buchstäblich ein Stein vom Herzen.
"Frau Mayr?", fragte sie.
"Erinnerst du dich, was passiert ist?", fragte ich vorsichtig.
Eine ganze Weile sagte sie nichts. Ich dachte schon, sie wäre wieder eingeschlafen. Doch dann nickte sie. Mit einem Mal schossen ihr unangekündigt die Tränen in die Augen. Vorsichtig, ohne ihr wehzutun, nahm ich sie in den Arm. Sie begann sofort heftig an meiner Schulter zu schluchtzen. Ich streichelte ihr über den Rücken. "Ich bin hier", flüsterte ich.
"Hast du Schmerzen?", fragte ich.
"Nein", antwortete sie.
"Wo?", fragte ich.
Verwundert sah mich Noelle an. So groß ihre Klappe auch war, so schlecht war sie im Lügen.
"Vor allem am Bauch und in der Seite", sagte sie.
"Du hast eine Rippe gebrochen. Also kein Lachen in nächster Zeit", sagte ich.
"Heilt das wieder?", fragte sie.
"Ja", antwortete ich.
"Was passiert jetzt mit mir?", fragte Noelle leise.
"Du kommst mit zu mir", sagte ich. Diese Entscheidung hatte ich in den letzten Stunden getroffen. Ich konnte nicht schon wieder den gleichen Fehler machen. Und wie sie vor ein paar Tagen richtig bemerkt hatte: sie konnte nichts dafür.
Erstaunt sah mich Noelle an.
"Sind Sie sich sicher?", fragte sie mich.
"Hattest du nicht schon aufgehört mich zu sietzen?", fragte ich.
"Du wolltest das ja nicht", sagte sie.
"Es wäre wirklich merkwürdig, wenn du mich weiter sietzen würdest", sagte ich.
Noelle nickte langsam.
"Aber warte noch ein bisschen mit dem M-Wort. Ich muss mich erst daran gewöhnen", sagte ich.
Sofort begann Noelle zu grinsen. Ich wusste, dass sie wieder einen Spruch auf der Lippe hatte.
"Nicht lachen", sagte ich.
Noelles Grinsen erlosch und sie fasste sich an die Rippe.
"Hast du Schmerzen?", fragte ich sofort.
"Ein bisschen", antwortete sie.
Ich kannte Noelle inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie höllische Schmerzen haben musste, wenn sie ein bisschen sagte.
"Ich geh mal die Krankenschwester holen. Sie kann dir vielleicht ein Schmerzmittel geben", sagte ich.
Doch Noelle hielt mich am Arm fest. "Geh nicht", flüsterte sie. Also setzte ich mich wieder zu ihr ans Bett.
"Wo ist er jetzt?", fragte sie so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.
"Er sitzt in U-Haft. Die Anklage lautet versuchter Totschlag. Er wird für sehr lange Zeit ins Gefängnis gehen", sagte ich.
Ich sah, wie sich ihre Schultern senkten. Sie musste wirklich große Angst vor ihm haben. Und ich hasste mich selber dafür, dass ich es so weit habe kommen lassen.
"Und ... meine ...ähm?", fragte sie.
"Deine Adoptivmutter sitzt auch in U-Haft. Bei ihr wird es wohl auf Beihilfe oder unterlassene Hilfestellung hinauslaufen", sagte ich.
Ich hörte, wie Noelles Atem schwerer wurde. Sie kämpfte ganz offensichtlich mit den Tränen.
Ich nahm ihre Hände in meine. "Noelle, es kann nur besser werden", sagte ich.
Sie nickte. "Es wäre schon besser, wenn du mich Nelly nennen würdest", sagte sie.
Ich lächelte sie an. "Okay, Nelly", sagte ich. "Darf ich jetzt die Krankenschwester holen?", fragte ich.
Als sie nickte, stand ich erleichtert auf.
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Geheimnisse einer Lehrerin
Fiksi RemajaNoelle wechselt an eine neue Schule. Dort lernt sie Frau Mayr kennen. Ihre neue Klassenlehrerin. Immer wieder geraten die beiden aneinander. Doch dann werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Was verbindet die beiden?