01 - Briefe für die Leere

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Seinen Zauberstab in der rechten Hand erhoben, saß er vornübergebeugt an dem einfachen, kleinen Tisch aus Holz. Konzentriert waren seine Augenbrauen ganz leicht zusammengezogen, während sein milchiger, stahlblauer Blick lediglich in die ungefähre Richtung der kratzenden Feder gerichtet war, die vor ihm auf ein Blatt Pergament schrieb. Der Federkiel hielt in seiner Bewegung inne, tunkte mit der angespitzten Seite in ein aufgeschraubtes Tintenfässchen, das ebenfalls auf dem Holztisch stand und setzte anschließend seine Bewegungen auf dem Papier kratzend fort.

Ominis Gaunt war nicht in der Lage, die Worte zu sehen, die er schrieb, da er blind war. Generell war das Schreiben eine Fähigkeit, die er für seinen Lebensinhalt nicht zwingend benötigte, die er sich jedoch, seiner selbst willen, umständlich aneignet hat. Umständlich deshalb, da ihm die kryptischen Formen von Buchstaben schlichtweg für eine sehr lange Zeit unbekannt gewesen waren. Wie hätte er sie auch kennen sollen, wenn seine Welt doch überwiegend aus Dunkelheit bestand?

Es war seiner Lieblingstante Noctua zu verdanken, dass Ominis überhaupt eine ungefähre Vorstellung von den geschwungenen Lettern erhalten hatte. Der weltoffenen Noctua, die sogar seine anfänglichen, zittrigen Versuche, die ihrer Aussage nach der Schrift eines Vierjährigen geglichen haben sollen, niemals zornig getadelt hat. Stattdessen half sie ihrem blinden Neffen, einen magischen Weg zu finden, um Buchstaben sauber auf das Papier zu bringen.

Seine liebevolle Tante Noctua, die, wie Ominis letztes Jahr schmerzlich erfahren musste, nicht mehr unter den Lebenden wandelte. Das bestimmt auch schon, seit einer sehr langen Zeit.

Aufmerksam lauschte Ominis dem Kratzen der Feder, die er mit seinem Zauberstab über das Pergament dirigierte. Mit einem Verbindungszauber schrieb sie die Worte, die er dachte, auf das Papier. Das beanspruchte seine volle Konzentration. Dazwischen musste er sich auch immer wieder daran selbst erinnern, die Feder wiederholt in das Tintenfässchen zu tauchen, ohne es aktiv zu denken. Andernfalls würde in jeder zweiten Zeile ›Tintenfässchen‹ zu lesen sein.

Zu dem beinahe meditativen Geräusch des kratzenden Federkiels, fügten sich in der kleinen Stube auch anfängliche, dumpfe Laute aus dem Nebenzimmer des Häuschens hinzu. Mobiliar knarzte, begleitet von einem leisen Gähnen und kurz darauf hörte er schlurfende Schritte über den knarrenden Holzdielen.

Ominis versuchte sich weiterhin auf seinen Brief zu konzentrieren, für dessen Fertigstellung er nicht mehr viel Zeit benötigen würde. Sein bester Freund kündigte sich unterdessen mit einem weiteren Gähnen an, nachdem die Tür zum Schlafzimmer geöffnet worden war. Schlurfende, unmotivierte Schritte tappten über den Holzboden, die auf ungefährer Höhe der Küchenzeile stoppten. Jemand schnüffelte leise und doch war es unüberhörbar.

Ominis ließ die Feder gewissenhaft für eine kurze Pause in das Tintenfässchen schweben, um sein fast vollendetes Werk nicht doch noch aus Versehen zu ruinieren. »Das ist Kaffee, was du da riechst, Sebastian. Ich habe welchen gekocht. Er sollte auf dem Herd stehen.«

Es verstrich ein kurzer Augenblick, in dem sich der Angesprochene wohl verwundert, oder überrascht, suchend nach ihm umsah. »Seit wann bist du denn schon wach, Ominis? Es ist noch sehr früh.«

»Seit einer Weile«, antwortete Ominis und drehte den Kopf wage in die Richtung, aus der er Sebastian vermutete. »Ich konnte nicht mehr schlafen. Habe ich dich geweckt?«

»Nein«, antwortete Sebastian sogleich. Gänzlich anders als andere Hexen oder Zauberer, die oft einfach nur den Kopf schütteln würden, nur um das hastig gesprochene Wort verlegen nachzuwerfen, da ein Blinder derlei Gesten schließlich nicht sehen konnte.

Ominis hörte, wie die Küchenschranktür geöffnet wurde und kurz darauf, wie sich Sebastian vermutlich einen Tonbecher auf die Küchenzeile stellte. Er tippte unterdessen mit seinem Zauberstab in Richtung der Feder, die sich daraufhin folgsam erhob, als der Verbindungszauber wieder auf ihr wirkte. Sie platzierte sich über dem Pergament und begann erneut kratzend darüber zu tanzen, als hätte sie nur darauf gewartet, ihr Werk fortzuführen.

Serpent's Lullaby - die Geschichte von Carol RoswellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt