12 - Löwenherz

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Merkwürdig tröstlich erklang sein Gesang in der Luft und senkte sich aufbauend über ihre bekümmerten Gedanken. Mit angezogenen Beinen und dem grauen Faltenrock ihrer Schuluniform ordentlich über ihre Knie gezogen, saß Carol umkreist vom blass violetten Heidegras, das sich sanft unter den leichten Luftzügen in hauchfeinen Wellen bog.

Wundersam berührt musterte sie seinen Flug, der in ausgedehnten Bahnen über den rosa werdenden Abendhimmel verlief und war gebannt von seinem roten Federkleid, das in der tief stehenden Sonne feurig glänzte. Einsam glitt er durch die Luft mit nur wenigen Schlägen seiner erstaunlichen Schwingen und rundete das atemberaubende Panorama ab. Die hohen Gebirgsketten ragten in der Ferne dem Horizont entgegen und leiteten den kommenden Abend mit weit werfenden Schatten ein.

Es war der einzige Ort, an den sich Carol völlig ungestört zurückziehen konnte. Fast ungestört. Denn unermüdlich sang das Tier sein aufmunterndes Lied der Abendsonne über dem Grasland entgegen, als wolle er die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben. Als möchte er sie daran erinnern, dass die Lasten auf ihren Schultern nur halb so schwer wogen, wie sie sich tatsächlich anfühlten.

Verbannen den Gedanken, dass sich Carol trotz des Beistands ihrer Freunde einsam fühlte. Einsam, da nicht die Person unter ihnen war, nach dessen Zuspruch sie sich am meisten sehnte.

Carol versuchte nicht an vergangenen Donnerstagnachmittag zu denken, doch geschah es immer wieder, wenn auch nur durch belanglose Kleinigkeiten. Immer wenn sie den Gemeinschaftsraum betrat, wurde es plötzlich sehr still. Nur ihre Mitschüler schienen sich nicht darum zu kümmern und luden Carol stets freundlich und mit offenen Armen in ihre Runde.

Wenn sie die Bibliothek aufsuchte, um ihre Hausaufgaben gewissenhaft zu erledigen, wehte belustigtes Gekicher mit unschönen Worten an ihre Ohren. Selbst wenn Carol am Morgen und am Abend Sacharissas Tinktur pflichtbewusst in ihrem Gesicht verteilte, dachte sie an Ominis.

Dachte an seine Qual, seinen Schmerz, seine Besorgnis; dachte an seinen dummen Vorschlag.

Und an ihre Unfähigkeit, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Carol fragte sich, warum sie in wichtigen Situationen immer schwieg. Weshalb sie lieber akzeptierte, als zu rebellieren. Warum sie immer verschüchtert lächelte, anstatt mutig zu debattieren.

Der Vogel zog unentwegt über ihr seine Flugkreise und sang sein traurig schönes Lied, während Carol an ihre eigenen Worte dachte, die sie vor drei Tagen Ominis aufmunternd ins Ohr gehaucht hat. Wie ironisch sie nun darüber sinnierte, wie gut es doch war, dass sie nicht tatsächlich ihre Hand in eine Feuerschale für ihn gelegt hat; sie hätte sich fürchterlich daran verbrannt.

So überzeugt Carol von ihren eigenen Worten auch gewesen war, hat Ominis sie dennoch unerwartet verletzt. Sicher, nicht beabsichtigt und auf eine Art und Weise, der er sich voraussichtlich noch nicht einmal im Klaren war. Wie sollte er es auch wissen, wenn Carol lieber schwieg, verschüchtert lächelte und akzeptierte?

Warum war sie nur so...?

Carol hat sogar ihre Beklemmung gegenüber Sebastian überwunden und ihn wegen Ominis angesprochen. Natürlich war das Gespräch nicht sonderlich gut verlaufen, so wie sie herumgedruckst und ihm noch nicht einmal in die Augen schauen konnte und doch hat sie sich überwunden.

Sie nahm es mit Riesenspinnen, Wilderern, Kobolden, Aschwindern, Inferi und magischen Wächtern der Alten Magie auf, aber nicht mit sich selbst.

Mit graziöser Leichtigkeit landete das magische Tierwesen elegant vor ihr und hüpfte einige schwungvolle und federnde Hopser über den weichen, mit Heidekraut bedeckten Boden, in Carols Richtung. Der schlanke, lange Hals reckte sich erhaben und die orangeroten Federn um seine käferschwarzen Augen glänzten, bevor er leise mit dem Schnabel klapperte und seine anmutenden Schwingen flach auf den Rücken legte.

Serpent's Lullaby - die Geschichte von Carol RoswellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt