09 - wie die Motte zum Licht

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Warnung: Graphische Beschreibung von selbstverletzendem Verhalten.

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Zerstreut und mit sorgenbeladenem Herzen, wanderte Carol ziellos durch den leergefegten Korridor. Vereinzelt schenkten Portraits der einsamen Schülerin ihre halbe Aufmerksamkeit, bevor sie sich wieder den formvollendeten Positionen widmeten, in denen sie vor so vielen Jahren für die Ewigkeit, künstlerisch festgehalten worden waren. Sie wusste nicht mehr genau, was sie Arthur und Poppy gesagt hat, damit sie Carol alleine zur Eulerei gehen ließen. Die letzte Stunde war Carol nur noch dumpf in Erinnerung geblieben. Verschwommen und hohl, als würde sie hinter einer dicken, schmutzigen Glasscheibe stehen, durch die sie nichts sah und kein Laut an ihre Ohren drang.

Carol hat in dem Turm der Eulerei auf dem mit Stroh übersäten Steinboden und zwischen Federn und Kot einen Brief an ihren älteren Bruder verfasst, der nicht auf dem familiären Gehöft in Worcester lebte, sondern mit seiner Frau in der äußeren Randregion von London. Schon vor Jahren war er wegen seinem beruflichen Werdegang, der nur allzu oft Streitthema in der Familie Roswell gewesen war, ausgezogen. Carol hatte ihn zuletzt auf seiner Hochzeit vor über einem Jahr gesehen. Wie glücklich Zaine damals gewesen war. Komisch, dass ihr sein Lächeln gerade jetzt in den Sinn kam.

Doch so schnell wie sich das Bild jenes glücklichen Tages in ihren Kopf schob, so schnell verflog es auch wieder, wie alle Gedanken.

Ratlos und überfordert mit der zerschmetternden Erkenntnis, die ihr der Heuler von Mrs Gaunt entgegengebrüllt hat, befürchtete Carol, dass die Eule auf dem Familienhof niemanden mehr erreichen könnte. Sie hoffte, dass sich ihr Bruder mit einer Antwort beeilte und sie nicht zu lange im Unwissen verweilen müsste. Doch zunächst einmal musste Carol genau dies – warten. Abwarten in einer ihr selbst erschaffenen Blase, in der sie sich abgrenzte.

Ein Selbstschutz, um keine weiteren Verletzungen zu erfahren, die ihr den Boden unter den Füßen wegziehen konnten.

Die stimmungsvollen Klänge eines Streichquartetts erfüllten den mehrstöckigen Salon im Turm der Verteidigung gegen die Dunklen Künste mit einer beruhigenden und tröstlichen Melodie. Durch das Buntglasfenster, welches in blauen, violetten, zartrosa und hellgelben Mosaiken ein Schlangenwesen darstellte, schien die Sonne hell und wärmte die Marmorplatten auf dem Boden.

Carol fühlte sich wie in Watte gehüllt, während sie benommen und langsam, die Stufen hinaufstieg. Kein Schüler kam ihr entgegen, doch ehrlicherweise achtete Carol nicht darauf. Sie könnte am Rand einer Menschentraube entlanggehen, die feiernd Schausteller beklatschten und doch würde es sie nicht erreichen.

Obwohl ihr Tag alles andere als emotional einfach war, um es neutral zu formulieren, war ihr Kopf wie leergefegt. Kaum ein sinnvoller Gedanke wollte sich in ihrem Geist formen, während sie automatisch hinter die große Steintreppe im zweiten Stock schlüpfte.

Carol musterte die fünfzehn römischen Ziffern ausdruckslos, sowie den stehen gebliebenen Sonnenlauf auf der wunderschönen und teilweise in Gold verarbeiteten Oberfläche des großen Schranks aus Buchenholz. Betrachtete teilnahmslos die geheimnisvollen, verschnörkelten Runen, die Malereien der Mondphasen und der Sterne, während das Licht der Sonne durch das runde Fenster über ihr, spärlich auf das Möbelstück schien und Staubpartikel im goldenen Glanz träge durch die Luft gleiten ließ.

Alles kam ihr so unwirklich vor. Ihr verpatzter Aufmunterungszauber, ihr Erfolg im Ungesagten Zaubern, ihre Panik, ihre Angst. Auch dass Carol nun genau hier stand, kam ihr nicht realistisch vor, nicht logisch. Sie fühlte sich wie ein Zuschauer in ihrem eigenen Leben. Ein Gefühl, wie es Carol nur allzu oft im letzten Jahr erfahren musste, doch war sie dabei nie so apathisch wie jetzt gewesen.

Serpent's Lullaby - die Geschichte von Carol RoswellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt