Der Viadukt

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Wenn du den Viadukt überquerst, richte dich niemals zu deiner vollen Größe auf! Der Windzug wäre zu stark und würde deine Gestalt sofort aus dem Gleichgewicht bringen. Schau nicht nach unten, gehe auf allen vieren und lass die hinter dir sind, niemals aus den Augen!

-General Melgren

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General Melgren war mürrisch, überheblich und grausam. Er war nicht nur ein General, er war DER General, Reiter des gefürchtetsten Drachen unserer bekannten Welt, und Kriegsheld.

Und mein Vater.

Zu sagen, es hätte mich schlimmer treffen können, war nur ein schwacher Trost. Ein Mann von solcher Position, mit einer endlosen Zahl Feinde um ihn herum, war nie sonderlich oft emotional erreichbar gewesen. Es gab Ausnahmen, gute Tage, wie ich sie nannte. Sie waren so selten, dass sie anfingen für mich zu einer Kostbarkeit zu werden. Eine Abwechslung zum harten Training, welches er nie vernachlässigte.

Und manchmal, an sehr guten Tagen, nahm er mich auf Codagh mit und ließ mich die Welt von oben sehen. ,,Das ist unser Zuhause." Hatte er mir beim ersten Mal erzählt, während er mich in einer solch festen Umklammerung hielt, welche ich von ihm zuvor noch nie gekannt hatte. ,,Das ist das, wozu wir Reiter auserkoren wurden, zu beschützen. Sowie du auch irgendwann." Ihm zu sagen, dass ich am liebsten Heilerin werden wollte, wäre eine noch dümmere und Lebensgefährliche Idee gewesen, wie ein Gespräch über Mom anzufangen. Niemand erwähnt ungestraft Linnea Melgren in seiner Anwesenheit, die einzige Person, die ihn jemals ohne Maske sehen durfte und imstande war, ein echtes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Ich verstand es an den meisten Tagen. Auch jetzt, sieben Jahre nach ihrem Tod, tat es so unglaublich weh, dass ich manchmal kaum Luft bekam.

Es klopfte laut an meiner Tür, so fest, dass die massive Eichentür erzitterte. Er legte nicht mal seine ganze Kraft da rein, für ihn war es zaghaftes Klopfen. Einen Augenblick später stand der General in meinem Zimmer, welches schon fast komplett ausgeräumt wurde. Selbst wenn ich überleben würde, hätte ich hier keinen Platz mehr. Mein Leben würde der Armee und dem Krieg gehören, wie es sich für eine Tochter Navarres gehörte.

,,Nimm nur das nötigste mit!" War seine Begrüßung und kritisch ließ er seinen Blick über meine Sachen gleiten, welche ich mit über den Viadukt nehmen würde. Viel war es nicht, schon gar nichts, was mich emotional angreifbar machen würde. ,,Natürlich, Dad. Ich hab mir alles, was du gesagt hast, zu Herzen genommen." General Melgren mochte emotional nicht erreichbar gewesen sein, doch er hatte es immer anders zur Geltung gebracht. Indem er mir zum Beispiel zeigte, wie man überlebte.

Er nahm mich mit sich, um Außenposten zu kontrollieren, wenn er es für sicher hielt, trainierte mit mir in den Bergen, ließ mich Übungsparkours und einen improvisierten Viadukt überqueren und zeigte mir, worauf es beim packen seines Rucksackes am meisten ankam. ,,Das unterschätzen viele Leute immer. Doch nicht nur der Inhalt, sondern auch das Gewicht deines Gepäckes, können deinen halben Sieg ausmachen." Deswegen hatte ich schon früh gelernt mich von Materiellen Dingen zu trennen, obwohl mir das zurücklassen meiner Bücher, wohl immer schwerfallen würde. 

Er nickte zufrieden, als er meinen Inhalt kontrollierte und dann einmal den Blick über mich fahren ließ. Er hatte mir eine neue Ausrüstung besorgt, dieselbe welche ich auch immer zu unseren Ausflügen mit Codagh anhatte, nur unauffälliger, sodass sie nicht sofort als eine leicht gepanzerte Rüstung erkannt werden würde. Ebenso die modifizierten Stiefel, mit welchen man auf jedem Gelände perfekt Halt finden würde. Es war nicht verboten, aber auch nicht gerne gesehen am College. Würde sowieso keine Rolle mehr spielen, denn sobald ich erstmal den Viadukt überquert haben würde, könnte mir niemand mehr diese Sachen abnehmen. Regeln waren doch manchmal gleichermaßen grässlich, wie auch praktisch.

Fourth Wing - Die Glut in meinem HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt