I - Fürchte nicht die Dunkelheit

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Ihr Kopf rutschte von der Handfläche und krachte frontal mit der Nase auf die bis dahin weiße Platte des Konferenztisches. Zumindest beinahe. Sie ruckte hoch. Fuck. War sie etwa gerade eingenickt? Mit klopfenden Herzen drückte sie das Rückgrat durch und warf einen Blick in die Runde. Die fünf Kollegen, die mit ihr am Tisch saßen – alle deutlich jenseits der fünfzig und durchweg männlich – hatten ihre Augen jedoch fest auf Herbert, den Chef der Technikredaktion, gerichtet und nichts mitbekommen. Hoffentlich. Ansonsten wäre das ziemlich peinlich geworden. Und potenziell schmerzhaft. Was hätte man wohl in der Unfallmeldung für die Berufsgenossenschaft geschrieben? Nasenbeinbruch, aufgrund Sekundenschlafs während einer Redaktionskonferenz. Puh. Damit wäre sie definitiv zum Gespött des Pressehauses aufgestiegen und müsste die nächsten Wochen mit einem Verband ...

„Sam? Holst du uns bitte drei Cappuccino und zwei Kaffees?", fragte Herbert, ohne direkt zu ihr herüberzublicken, und riss sie aus ihren Gedanken.

Der ältere Technik-Redakteur mit dem gezwirbelten silbernen Schnauzbart und seiner altbackenen Fliege verstand das offensichtlich nicht als Frage im engeren Sinne. Es war nicht so, dass sie hätte antworten können: „Warum holst du ihn dir nicht selbst?". Oder direkt: „Warum machst du es ...". Egal.

„Sicher, Herb", antwortete sie stattdessen, konnte sich allerdings nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Aber du weißt schon, dass die Kollegen vom Investigativteam gerade eine spannende #MeToo-Reportage veröffentlicht haben?"

„Hä?" Jetzt wandte er doch seinen Kopf und warf ihr einen irritierten Blick über seine halbmondförmige Lesebrille zu, die beinahe von der Nase zu gleiten schien.

Auch die anderen vier Augenpaare drehten sich zu ihr. Ergraute Stoppelhaare, Halbglatzen oder fein säuberlich über die Platte gekämmte Haarsträhnen rahmten die Gesichter der älteren Kollegen ein.

„Vergiss es", meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Bin gleich wieder da."

Damit schob sie den unbequemen Metallstuhl zurück und vernahm noch, wie die anderen begannen, die Themen der Redaktionskonferenz zu erörtern. Im Grunde war sie dankbar, dem Altherrenmief im fensterlosen Konferenzraum mit seinen kahlen Raufasertapeten und dem fahlen Neonlicht zu entfliehen.

Als Praktikantin befand sie sich trotz des abgeschlossenen Journalistikstudiums mit Bestnoten leider am Ende der Nahrungskette. Und als Frau Mitte zwanzig war sie für diese rein mit älteren Herren besetzte Technik-Redaktion, nicht mehr als eine hübsche Sekretärin. Die langjährigen Kollegen ließen sie deutlich spüren, dass sie dankbar sein sollte, hier im Polaris Presseverlag arbeiten zu dürfen.

Im Verlagshaus durfte sie während ihres „Traineeships" alle paar Monate in einen neuen Bereich reinschnuppern. In diesem Fall rümpfte sie jedoch ihre geistige Nase, denn „Technik" – im Sinne von PCs, Windows-Tipps und USB-Kameras – interessierten sie journalistisch nicht die Bohne. Erst recht nicht, wenn sich das gesamte Redaktionsteam gefühlt der Frührente näherte. Über die neusten iPhones, Samsung-Modelle oder Spieletrends wurde im „New-Media-Team" berichtet. Ihrer Überzeugung nach, würde die „Technik"-Sparte komplett eingestampft, sobald die Herren in den Ruhestand gingen.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, spuckte der schicke Kaffeevollautomat, den die Kollegen für einen Hersteller „testeten", in diesem Moment mit einem unappetitlichen Rülpsen die letzten Reste seiner Milch aus. Quengelnd wollte er den Abtropfbehälter geleert haben und schrie nach frischen Bohnen. Das war ja wie auf der Säuglingsstation. Und davon hatte sie genauso viel Ahnung wie von diesen Teilen. 

„Ach, Fuck", fluchte sie laut.

Frustriert rüttelte sie das Gerät und war kurz davor dem Ding einen kräftigen Schlag zu verpassen. Und nun? Sie trank selbst keinen Kaffee und hatte sich bisher nicht damit beschäftigen müssen, wie man widerspenstige Automaten mit Frischmilch versorgte.

𝗱𝗲𝗮𝗱𝗯𝗼𝗼𝗸 - ​Ralphs letztes Rätsel✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt