II - Das Licht, das die Finsternis besiegt

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Mit einem Ruck saß Sam senkrecht im Bett. Ihre karierte Bettdecke flog zur Seite. Der Mickey-Maus-Wecker, den ihr Oma mit dreizehn geschenkt hatte, krachte scheppernd zu Boden. Mit wild galoppierendem Herzen starrte sie auf die leicht pixeligen Buchstaben des Displays. Das zittrige Leuchten in ihrer Hand verstärkte die Bewegungen der pechschwarzen Nachtschatten in ihrer Kammer. Panisch huschten ihre Blicke in jede der finsteren Ecken. Hastig drückte sie das Gerät an ihre Brust, schloss die Augen und tastete nach der Nachttischlampe.

Das harte Klacken des Schalters und grelles LED-Licht vertrieb die tanzenden Albtraumgestalten und malte ihre winzige Praktikantenbude in überdeutlichen Kontrasten: Ihr Billy mit den schlichtweißen Türen. Ein Schreibtisch des gleichen Möbelhauses, auf dem sich neben ihrem aufgeklappten Arbeitslaptop eselsohrige Notizen stapelten. Eine Biedermeier-Kommode, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Dazwischen eine abgewetzte Ledercouch vom Sperrmüll sowie die grün-braune Kochzeile des Vor-Vor-Vor-Mieters aus den Achtzigern, auf der das Geschirr auf seinen Abwasch wartete. Auf der anderen Seite ein finsteres Loch, das ins innenliegende Duschbad führte.

Ehe sie einen weiteren Gedanken an die brennende Textzeile auf ihrer Brust verschwendete, stand sie auf und hetzte mit knarzenden Schritten durch die Wohnung. Mit fahrigen Fingern schaltete sie sowohl das Licht in Küche und Bad als auch das Deckenlicht an. Erst danach gönnte sie sich, tief durchzuatmen und sich auf das kühle Leder ihre Couch fallenzulassen.

Samantha, do you fear the darkness?

Nun, so war es wohl. Das gestand sie sich in diesem Augenblick ein. Von der nordamerikanischen Mobilnummer des Absenders hatte sie jedoch schon am frühen Abend eine Nachricht erhalten: die Registrierungs-SMS mit der PIN für Deadbook.

War das ein Marketing-Gag? Eher nicht. Dafür fehlte der „Call-to-Action", die Aufforderung aktiv zu werden. Ein übler Scherz? Oder Scam? Wartete jemand darauf, dass sie antwortete, um sie anschließen zu bequatschen? Eine Art perverser Enkel-Trick? Nach dem Abflauen der Adrenalinflut war sie müder und ausgelaugter als zu vor. Die Antwort fände sie heute Nacht nicht mehr. Es war kurz vor vier Uhr. Stöhnend und sich über ihre eigene Angst ärgernd schlurfte sie zu ihrem Bett zurück, schaltete das Handy vollständig aus und verkroch sich unter ihrer Decke. Trotz des erleuchteten Zimmers war sie nur Sekunden später wieder eingeschlafen.

✝ ✝ ✝

Am nächsten Vormittag saß sie im dritten Stock des Verlagshauses an einem „Hotdesk". Hot war hier jedoch nur die stehende Luft, die sich an diesem Juli-Tag trotz geöffneter Fenster bereits aufheizte. Eine Klimaanlage gab es in dem Siebzigerjahrebau nicht. Ansonsten war die anonyme Atmosphäre des Großraumbüros mit den flexiblen Arbeitsplätzen eher nüchtern. Weiße Schreibtische, schwarze Stühle, grauer Teppich. Wände mit eingerahmten Bildern aus besseren Zeiten: Eine pulsierende Redaktion mit Faxgeräten und PCs; Druckbögen, die über das Band der inzwischen outgesourcten Druckerei jagten; der Empfang des Publizierpreises eines längst verstorbenen Kollegen. Motivation für junge Kolleginnen zu erzeugen, ging anders.

Eine Lektion hatte sie bereits vor ein paar Monaten zu Beginn ihres Praktikums auf die harte Tour lernen müssen: Das Wort „Team" stand für „toll, einer machts". Und im Zweifelsfall war das die Praktikantin. Vier Wochen hatte sie sich sprichwörtlich die Hacken wund gelaufen, stundenlang im Wartebereich des Willy-Brandt-Hauses herumgelungert und in einschlägigen Kneipen und Bistros die Zeit totgeschlagen. Alles, um mit einem der Staatssekretäre der Senatorin für Verkehr und Umwelt ins Gespräch zu kommen. Am Ende war sie tatsächlich erfolgreich und entlockte dem hochnäsigen Anzugträger recht brisante Informationen über Kostensteigerungen und mögliche Korruptionsvorwürfe beim Bau der A100. Mit stolzgeschwellter Brust übergab sie den entsprechenden Text an Fred, ihrem „Teamchef" und Nachwuchsredakteur, der auch erst seit zwei Jahren beim Verlag arbeitete. Der platzierte die Story – ihre Story – direkt beim Ressortchef und verkaufte sie diesem als seine eigene. Der daraus resultierende, viel gelesene und hochgelobte Artikel erwähnte sie mit keinem Wort. So ein Arsch. Später erfuhr sie, dass man sich speziell hier bei Polaris erst mal „ein paar Jahre die Sporen verdienen müsse", bis sich das änderte. So lange heimsten andere die Lorbeeren ein.

𝗱𝗲𝗮𝗱𝗯𝗼𝗼𝗸 - ​Ralphs letztes Rätsel✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt