X - Schwarze Brandung in stürmischer See

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Als der Staub sich verzog und erste Stechmücken in der drückend schwülen Nachmittagssonne ihren Kopf umschwirrten, kam ein großgewachsener First Nation Mann mit ausladenden Schritten auf sie zu. Langes schwarzes Haar, das zu einem zopfgeflochten und von einzelnen grauen Strähnen durchsetzt war, schwarzbraune Augen mit ernstem Blick sowie scharfe Falten um die Kinnpartie. In Jeans und schlichtem, rot kariertem Holzfällerhemd begrüßte er sie mit einem festen Handschlag.

„Chief Owen Moonwater", stellte er sich im tiefen Bass vor und bestätigte damit ihre Vermutung, dass es der Häuptling höchstpersönlich war, der sie abholte. „Willkommen in unserer Gemeinde. Hattest du einen guten Flug?"

„Vielen Dank, alles bestens. Samantha Schwarzberg vom Polaris Presseverlag. Du kannst mich Sam nennen. Wie geht es dir?" Langsam gewöhnte sie sich an den nordamerikanischen Small Talk, antwortete höflich und stellte sich als Journalistin aus Deutschland vor.

Ihr Ziel sei es, mehr über die Herausforderungen und Nöte dieser First Nation Gemeinde, mit ihren etwa fünfhundert Einwohnern herauszufinden. Touristen verirrten sich eher selten hierhin, daher hatte sie vorab ihr Kommen bei der Gemeindeverwaltung telefonisch angekündigt. Ihre kurze Recherche hatte gezeigt, dass die Dörfer der ersten Nation sich teilweise zurückgesetzt und vergessen fühlten. Nicht zu Unrecht: Selbst elementare Dinge, wie die stabile Versorgung mit trinkbarem Wasser, schienen hier nicht selbstverständlich zu sein. Auch an hochwertiger Bildung, Arbeit, einem ausgebauten Gesundheitswesen und Wohnraum mangelte es. Das kam ihr entgegen, da der Chief sich für Gespräche mit der Presse offen zeigte, um über seine Nöte zu berichten.

„Komm, ich führe dich etwas herum, zeig dir unser Gemeindezentrum, die Schule und natürlich die Wasseraufbereitungsanlage, die seit Jahren Probleme macht", meinte er und geleitete sie zu einem blauen Pick-up, der am Rande des staubigen Rollfelds parkte. „Wie kommt es, dass sich jemand aus Europa für uns interessiert?"

„Oh, ich war zufällig in Toronto und habe in der Presse von den Wasserproblemen gelesen. Da dachte ich, das wäre eine gute Gelegenheit, über eure heutige Lebensweise zu berichten und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass es abseits der touristischen Routen noch ein anderes Kanada existiert." Und um ihn nicht anzulügen, nahm sie sich vor, einen Artikel darüber zu schreiben. Ob dieser später in einem der Polaris-Formate oder nur auf ihrem persönlichen Blog erscheinen würde, war eine andere Frage.

„Zufällig?", hakte er nach, während sie über eine Schotterpiste zwischen hohen Bäumen hinweg rumpelten. Die Stoßdämpfer seines Lasters schienen seit Längerem durch zu sein. „Aber ungewöhnlich ist das schon, oder? Ich meine, du hättest ja auch mit einem Mietwagen in eine der näheren Siedlungen fahren können, statt den unbequemen Flug auf dich zu nehmen."

Wie bekam sie den Bogen hin? Ihr Ziel war es, herauszufinden, ob es hier im Dorf einen Softwareentwickler oder IT-Spezialisten gab, der potenziell als Ralph Smith auftrat.

„Schon, aber das mit dem verschmutzten Trinkwasser hier scheint ein ungewöhnlicher Fall zu sein", versuchte sie die Kurve zu kriegen. „Dabei gibt es hier doch bestimmt viele hoch qualifizierte Einwohner."

„Hmpf ... zumindest was das Wasser betrifft, hast du recht. Mehrmals mussten wir in den letzten Jahren evakuiert werden. Aber selbst reparieren können wir das nicht. Dafür braucht es eine Firma mit entsprechendem Gerät. All die jungen Leute", er schüttelte den Kopf, „sie verlassen unser Dorf. Ziehen zum Studieren an die Küsten oder die großen Seen. Lassen die Alten und ihre Traditionen hinter sich ..."

„... und niemand kommt zurück? Das kann ich mir nicht vorstellen!", warf sie theatralisch ein.

„Kaum einer." Damit verstummte der Chief, während sie das Dorf erreichten.

𝗱𝗲𝗮𝗱𝗯𝗼𝗼𝗸 - ​Ralphs letztes Rätsel✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt