Eigentlich hatte ich gedacht, meinen Tiefpunkt hätte ich nach der – in Anführungszeichen – Beziehungspause mit Noah erreicht, als mein Gehirn endlich geschaltet hatte, dass keine Mütze Schlaf ohne Therapie das zwischen uns wieder hinbiegen würde. Oder nochmal drei Monate später, als ich bei Frau Wernecke das erste Mal wie matschiger Wackelpudding auseinandergefallen war. Als ich mich letztes Weihnachten nach sechzehn Monaten relativer Funkstille dazu durchgerungen hatte, die Einladung meiner Eltern zum Feiertagsessen anzunehmen. Aber das hier? Dagegen war der Meeresgrund ein Nicht-Schwimmer-Becken in einem familienfreundlichen Erlebnisbad.
Ich atmete langsam und tief ein. „Du wolltest den Film gucken, also-"
„Tabea hat einen großen Bruder." Emma stieß ihre Schulter gegen meine. Wären wir nicht verwandt, hätte sie schon die große Restmülltonne im Hinterhof von unten bewundern können.
„Es freut mich wirklich für deine kleine Freundin, dass sie einen großen Bruder hat. Können wir jetzt-"
„Sie sagt, er ist hübsch." Das mit dem Ausredenlassen hatte sie irgendwie nicht drauf. Manchmal war es mir schleierhaft, wie sie die Stunden in der Schule stillsitzen, mir aber keine drei Sekunden Redezeit einräumen konnte. „Und er ist schwul."
Kleine Korrektur – das hier war nicht der Marianengraben, sondern die Hölle.
„Großartig für die LGBTQIAXYZ-plus-was-es-sonst-noch-gibt-Szene, dass sie ein neues Mitglied hat", sagte ich. „Leider stehe ich nicht auf Zwölfjährige."
„Er ist nicht zwölf!" Sie verdrehte demonstrativ die Augen. „Er ist schon alt. Zweiundzwanzig."
Was war ich dann bitte mit vierundzwanzig? Kurz vorm Exitus?
„Aha." Ich schnappte mir die Fernbedienung und drehte die Lautstärke hoch, aber Emma wäre nicht Emma, wenn sie den Wink mit dem Pfahl samt zugehörigem Zaun verstanden hätte. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, konnte sie widerstandfähiger sein als ein vierfach multiresistentes gramnegatives Bakterium.
„Außerdem", sie hob den rechten Finger und pikste mir damit in die Rippen, „ist er single."
Es gab doch nichts, was das Selbstbewusstsein mehr bestärkte, als ein elfjähriges Mädchen, das versuchte, seinen dreizehn Jahre älteren Bruder zu verkuppeln, weil der es scheinbar im Alleingang nicht hinbekam. Noch nicht hinbekam, schließlich arbeitete ich momentan sehr hart daran. Trotzdem, um den Schaden wieder zu begleichen, müsste ich heute mit mindestens fünf verschieden Männlein und Weiblein Geschlechtsverkehr ausüben. Und zwar gleichzeitig.
Nur dass Noah mich dann hochkant die Toilette hinunterspülen würde. Nachdem Holger sie benutzt hatte. Für ein längeres Geschäft.
Ich schnaubte. „Es dürfen sehr wohl auch Frauen sein. Ich suche nicht zwangsläufig nach Männern." Eher nach Männchen.
„Ronja sagt aber, dass du dir seit Noah nur noch Männer ansiehst."
Gut, dass das Miststück wenigstens den Teil ausgelassen hatte, wo ich mir diese Männer ansah. Ich würde ihr niemals wieder meinen Laptop leihen, ohne vorher meinen Browserverlauf gelöscht zu haben.
„Das hat sich eben rein zufällig so ergeben."
Emma hob eine Braue. Wenn sie das tat, sah sie aus wie eine winzige, mädchenhafte Version von mir. Direkt ekelhaft. „Ronja hat auch gesagt, dass du neidisch auf sie bist, weil sie eine Freundin hat und du keinen Freund."
Ich presste die Lippen zusammen. „Erstens bin ich nicht neidisch", zumindest nicht sehr, „zweitens verbiete ich dir, mit ihr über solche Dinge zu sprechen, und drittens", ich packte ihren Zeigefinger, den sie immer noch im Sekundentakt in mein Fleisch bohrte, und schob ihn beiseite, „habe ich sehr wohl einen Freund."
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An meiner Oberfläche
Romance[Fortsetzung zu: "In meinem Abgrund"] Eigentlich hat Paul allein mit Noah, seinen Therapiesitzungen und der gestörten Beziehung zu seinen Eltern alle Hände voll zu tun - wäre da halt nicht noch Adam, zwanzig Jahre jung und ungewollter Patient in Pau...