„Herr Balz?" Herr Weber schielte zu uns in den Warteraum. Er hielt ein Blatt Papier in seinen schrumpeligen, alten Händen und schien äußerst verwirrt. Bei jeder Bewegung wackelte der frisierte Schnauzer auf seiner Oberlippe. Er sah aus wie dieser deutsche Fernsehkoch. „Hatten wir einen extra-Termin vereinbart?"
„Ähm, n-nein, ich bin heute", Noah deutete mehrmals zu mir rüber, „mit ihm bei Frau Wernecke."
„Achso." Er lächelte und sein Schnurrbart lächelte mich. „Gut, ich dachte schon, ich hätte Sie vergessen."
Ich musterte ihn, wie er ein junges Mädchen aufrief, dass sofort hastig von ihrem Stuhl aufsprang und ihm mit gesenktem Kopf aus dem Wartezimmer folgte.
Das hätte ich jetzt auch gerne getan – aufstehen und abhauen. Und diesem Fluchtgedanken half es nicht unbedingt, dass Noah mit weit aufgerissenen Augen und unruhig hin und her schwingenden Beinen neben mir hockte und alle sieben Sekunden die Position seines Hinterns auf seinem Stuhl änderte.
Wenn eine Nervosität übertragbar war, dann war es seine.
„Kannst du aufhören, so zu tun, als würde ich dich zur Schlachtbank führen?" Zumal ich derjenige war, dem heute ein unangenehmes Gespräch bevorstand. Noah musste nur zuhören und versuchen, mich zu verstehen. Das war nichts im Gegensatz zu dem, was mir abverlangt wurde.
„I-ich bin nicht nervös", sagte er und machte weiter damit, offensichtlich nervös zu sein.
Das hielt doch keine Menschenseele aus!
Ohne eine Erwiderung – weil so eine seltendämliche Lüge keiner Erwiderung würdig war – kam ich auf die Beine und stampfte aus dem Wartezimmer raus und geradewegs rüber in Frau Werneckes Therapiezimmer. Ohne anzuklopfen, einfach rein.
Sie hatte keinen Patienten. Sie thronte einfach nur auf ihrem scheiß Sessel und sah irgendwelche Unterlagen durch, während ich draußen warten musste.
Ich knackste meine Kiefer durch. „Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie uns draußen versauern lassen, obwohl Sie gerade keine Sitzung mit irgendwem haben?"
Frau Wernecke blickte auf, unbeeindruckt wie immer. „Guten Tag, Herr Achermann."
Das Knacksen nahm zu. „Warum rufen Sie uns nicht rein, wenn Sie nichts zu tun haben?"
„Weil meine Arbeit nicht nur aus Gesprächen besteht." Sie erhob sich, ging zu dem kleinen Aktenschrank neben der Tür und verstaute die Unterlagen dort, bevor sie mir einen langen und gründlichen Blick zuwarf. „Erklären Sie mir, warum Sie wütend sind, obwohl unser Termin erst in zwanzig Minuten angesetzt ist?"
Ich öffnete den Mund, um ihr ganz genau zu erklären, warum ich wütend auf sie war, als ich bemerkte, dass ich gar nicht so richtig wusste, weshalb ich wütend auf sie war. Ob ich wütend auf sie war oder etwas anderes dahinter steckte.
Ihr Gesicht wandelte sich von unbeeindruckt zu therapeutisch. Ich hasste es, wenn das passierte. „Beginnen Sie damit, was Sie körperlich fühlen."
Körperlich.
Ich verzog das Gesicht, verschränkte die Arme vor der Brust, entwirrte sie wieder und verschränkte sie erneut, bevor: „Ich ... muss mich bewegen."
„Gut." Sie nickte. „Was noch?"
„Es soll schneller gehen." Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Der Termin soll schon zu ende sein. Und Noah", ich wedelte mit der rechten Hand in seine ungefähre Richtung, „sieht aus, als wäre er derjenige, der mich zu einem Plausch mit Herrn Weber eingeladen hätte, und nicht umgekehrt."
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An meiner Oberfläche
Romance[Fortsetzung zu: "In meinem Abgrund"] Eigentlich hat Paul allein mit Noah, seinen Therapiesitzungen und der gestörten Beziehung zu seinen Eltern alle Hände voll zu tun - wäre da halt nicht noch Adam, zwanzig Jahre jung und ungewollter Patient in Pau...