Kapitel 1 - Die Verschollene

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Es gab einmal eine Zeit, da die Wälder nahe Duwa Mädchen verschlangen.

Das war es, was die alten Ammenmärchen ihr zu Kindheitstagen immer mahnend gepriesen hatten. Sie sprachen von hungrigen Hexen, die in Dornenwäldern lauerten und blutrünstigen Monstern, die junge Frauen mit ihren langen Krallen in den Tod lockten. Einst hatte Cecilia sie nur für alberne Geschichten über verlorene Mädchen und trügerische Jungen gehalten. Doch selbst ihre Mutter, welche für solche Sagen nicht sonderlich viel übrig hatte, hatte sie immer daran erinnert, sich stets von der Ödsee fernzuhalten, wenn sie eines Tages auf das Schlachtfeld zog. Fern von dem trügerischen Gebiet, in dem einst vor langer Zeit ein üppiger Dornwald seine Wurzeln geschlagen hatte. Lieber sollte sie an den Grenzgebieten zu Fjerda oder Shu-Han ihr Vaterland verteidigen.

Hätte sie diese Warnungen nur ein wenig ernster genommen.

Der Dornwald war bereits seit Ewigkeiten dem Erdboden gleich gemacht. Jedoch umgab das Fleckchen Land noch immer eine beunruhigende Atmosphäre. Genauer gesagt, eine Mauer aus Schatten und fliegenden Biestern.

Wie aufs Stichwort konnte Cecilia die Schreie der Volcra in der Ferne vernehmen. Wie sie über ihren Kopf hinweg durch die Gegend hallten. Sie übertönten alles in ihrem Umfeld und waren ein sicheres Omen für einen bald bevorstehenden, schmerzvollen Tod. Ein Herold ihres Untergangs.

Der Klang war so unfassbar laut, dass sich schon bald ein dumpfes Pochen in Cecilias Schläfen ausbreitete. Ihre Kehle schnürte sich bei dem Gedanken zu, dass dies womöglich das Letzte sein würde, was sie in ihrem Leben zu hören bekommen würde. Markerschütterndes Kreischen und das flattern von ledrigen Schwingen in der Luft, bevor sich spitze Klauen in ihre Brust graben würden, um sie bei lebendigem Leibe zu zerfetzen.

In Vorbereitung auf ihr nahendes Ende, betete sie ein letztes Mal zu höheren Mächten. Zu Sankta Marya, der Schutzpatronin derer, welche fernab ihrer Heimat waren. Auf dass sie in ihren letzten Atemzügen mit dem tröstenden Bild der weiten Tannenwälder hinter ihrem Hof in Halmhend gesegnet werden würde. Zu Sankt Demyan, dem Heiligen der Frischverstorbenen. Auf dass er sie gut auf ihrem Weg in das Jenseits behütete, bis ihr Leichnam in der Erde Wurzeln schlagen würde. Und zu Djel. Auf dass er sie in seinen ewigen Fluss aufnehmen würde, wodurch ihr Geist in einem unendlichen Kreislauf mit der gesamten Welt verschmelzen könnte.

Doch mit der Zeit bemerkte Cecilia plötzlich, dass die Rufe der finsteren Kreaturen klarer wurden. Nun klangen sie vielmehr wie ein scharfes Flöten, als ein krächzendes Gröhlen. Beinahe wie...eine Eule. Dabei sollte es doch eigentlich unmöglich sein, einer Eule in der Schattenflur zu begegnen. Hier verendete alles in den Fängen der Volcra. Die Absurdität dieser Situation erweckte ein saures Gefühl der Ironie in ihrem Magen. Hunderte Soldaten waren auf der Durchfahrt durch die Massen der Finsternis gestorben und ein einfacher Vogel sollte von diesem grauenhaften Schicksal schlichtweg unberührt bleiben?

Es war fast so, als wäre die Eule den Schattenbiestern zu hager, um ein ernsthaftes Mahl darzubieten. Ihr Hunger war unergründlich und selbst die Massen an Menschen, die sie bereits verschlungen haben, hatten nicht im Ansatz ausgereicht, um ihn zu stillen. Bilder von blutigen Reißzähnen, schmerzverzerrten Grimassen, leblosen Gliedern und aufgerissenen Rümpfen blitzten vor Cecilias innerem Auge auf. Sie hatte die Fahrt über die Flur nicht oft antreten müssen, den Heiligen sei Dank. Doch die wenigen, grauenerregenden Überquerungen, an denen sie zu militärischen Zwecken teilgenommen hatte, hatten für eine ganze Lebzeit ausgereicht.

Seltsamerweise vernahm sie außer der Eulenschreie keine weiteren Geräusche. Keine Menschen, die um Hilfe riefen oder ihre Heiligen um ein gnädiges Ende anflehten, so wie sie es stumm vor sich hin tat. Kein Kapitän, der seine Mannschaft anwies den Rückzug anzutreten und die letzten Soldaten zum Sterben an einen sicheren Heimathafen zu bringen. Keine fliegenden Biester, deren modrige Flügel klatschend aneinanderschlugen oder deren spitze Zähne Knochen wie Nussschalen zerknacken ließen. Nur diese verdammte Eule.

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