18: Im Freibad

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"Los, mal doch einen Regenbogen dazu, Mia!"
Ich betrachten das Kunstwerk, das Alice, mitten in der Religionsstunde auf unser Pult gemalt hatte. Es zeigte eine Landschaft, nur der Himmel war noch nicht ganz fertig. Es wirkte, als hätte sie mit Absicht ein Loch in diese gezeichnete Welt gelassen, durch das man wunderbar auf den zerkratzten, alten Schultisch schauen konnte.
"Nein... Damit würde ich das Bild in den Dreck ziehen"
Sie zuckte mit den Schultern.
"Egal. Ich muss es so oder so vor dem Ende der Stunde wieder wegradieren. Wenn der Hausmeister das sieht, darf ich bis zum Ende des Schuljahres Tische putzen"
"Woher will der den wissen, dass das von dir ist?" Alice zeigte auf ihre Signatur am unteren, rechten Bildrand. Ich runzelte die Stirn.
"Ach so, okay..."

Unsere Religionslehrer redete immer davon, wie gefährlich es wäre sich auf Dinge wie Gläserrücken und Zukunfsvorhersagen zu verlassen. Mir kam das Ganze wie ein ziemlich schlechter Witz auf Kosten meines Lebens vor. Ich schielte zu Jake der schräg hinter mir saß hinüber. Seit er mich gestern aus seinem Zimmer geworfen hatte, hatten wir nicht mehr wirklich miteinander geredet. Er schien unserem Leher genauso wenig zu zuhören wie ich.

"Heute soll es warm werden"
Alice kramte ihren Radiergummi hervor und begann das, in meinen Augen schon perfekte Bild, auszubessern.
"Wir können heute Nachmittag ins Freibad fahren. Das wäre doch schön"
"In diesem Kaff gibt es ein Freibad?" Wow. Ich war ehrlich beeindruckt. "Naja, wir müssten ein Stück mit dem Bus fahren, aber das dürfte doch eigentlich kein Problem sein. Ich frag Nady und Phil gleich einmal, ob sie Lust dazu haben"
"Und was ist mit Jake?"
Alice seufzte und legte den Radiergummi weg. Unzufrieden betrachtete sie ihr Bild.
"Der will so oder so nicht mitkommen"
Ich schielte erneut zu Jake hinüber. Er hatte mittlerweile den Kopf auf sein Pult gelegt und schlief anscheinend. "Wie kannst du dir da so sicher sein?" "Ich kann Gefühle lesen, schon vergessen? Außerdem machte er in letzter Zeit nicht wirklich den Eindruck, als würde er gerne etwas mit uns unternehmen..."
Ja, da hatte sie Recht. Das war mir auch ohne die Fähigkeit, Gefühle zu lesen aufgefallen.
"Ich frage mich, ob das ein Grund ist, sich Sorgen zu machen"
Sie blickte mich überrascht an. Dann legte sie den Kopf schief.
"Um Jake? Oh Mann, das aus deinem Mund zu hören ist wirklich seltsam..." "Wieso? Ich hab doch auch ein Recht dazu, mir Sorgen zu machen"
"Klar"
Alice wendete sich wieder ihrem Bild zu "Wir leben schließlich in einem freien Land..."

Ich zog einen Bleistift hervor und versuchte tatsächlich einen Regenbogen zu malen. Er erinnerte jedoch eher an eine zermatschte Banane.
"Dein Bruder kann doch nicht schwimmen. Bist du dir sicher, dass er mit ins Freibad kommen möchte?" Alice grinste.
"Phil kann nicht nur nicht schwimmen. Er ist richtig wasserscheu. Letztes Jahr an Halloween habe ich..."
Sie brach den Satz ab und grinste noch breiter.
"Das zu erzählen wäre gemein. Naja, jedenfalls wird er trotzdem mitkommen. Du weißt schon: Eis am Stiel, schöne Mädchen..."

"Weißt du, ohne Mia, würde das hier sogar Spaß machen"
Nadys Augen waren hinter der dunklen Sonnenbrille nicht zu erkennen, doch ich konnte mir auch so sehr gut vorstellen, wie sie mich anfunkelte.
"Nady, wenn du so ein großes Problem mit mir hast, hättest du nicht mitkommen müssen. Keine der Anderen nimmt mir das mit den Schatten und dem Buch so übel wie du"
"Eben", mischte sich Phil ein. "Entspann dich doch mal"
"Oh, das sagt der Richtige. Wer bekommt den jedes Mal eine Panikattake, wenn es ums Schwimmen geht?"
Phil sah ziemlich beleidigt aus.
"Ich bekomme keine Panikattake" "Ach"
Nady stand auf. In ihrem orangen Bikini sah sie aus, als würde sie in Flammen stehen und ungefähr jeder zweiter Junge hier im Freibad sah sich nach ihr um. Ich meinte einige sogar regelrecht sabbern zu sehen. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein.
"Dann hast du doch bestimmt nichts dagegen ein kleines Wettschwimmen..."
Alice hustete als müsse sie einen Lachanfall unterdrücken.
"Nein... ich bin so schnell, das würde dich nur demotivieren..." "Natürlich..."
"Ich komm gerne mit, Nady"
Alice streckte sich einmal und stand auf.
"Was ist mit dir?", wandte sie sich an mich.
"Ich... ähm..."
Nady sah aus, als hätte ich ihr, wieder einmal, die gute Laune verdorben. Zumindest war sie mir heute kein einziges Mal an die Kehle gesprungen. Seit sie die Sache mit dem Buch wusste, hatte ich eigentlich fest damit gerechnet.
"Ich... bin keine große Schwimmerin... und..."
Alice legte den Kopf schief. Mir fiel auf, dass Phil und sie das ständig taten. Noch etwas, was sie als Geschwister kennzeichnete.
"In Ordnung..."

"Möchtest du ein Gummibärchen?" Phil zog eine Tüte mit Naschereien aus seiner Sporttasche, öffnete sie jedoch so ungeschickt, dass sich die Gummibärchen über unsere Handtücher verteilten.
"Ups"
Ich sammelte eins auf uns steckte es mir in den Mund. Obwohl es auf dem Boden gelegen hatten, schmeckt es noch richtig gut.
"Bist du wirklich keine gute Schwimmerin oder hast du Angst vor Nady?"
"Zum Thema Angst darfst du wirklich nichts sagen. Du bist gestern aus dem Fenster gesprungen, um nicht von Jake erwischt zu werden. Nicht ich" "Stimmt. Was hat er eigentlich dazu gesagt? Bitte nichts entschärfen, ich bin alt genug um Kraftausdrücke zu überhören..."
"Eigentlich war er sogar ziemlich... gefasst. Er hat mich einfach gebeten zu gehen"
Phil runzelte die Stirn. Jetzt, wo ich ihn einmal Badehose sah, fiel mir erst auf, wie muskulös und athletisch er gebaut war. Ich hatte mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, aber Phil war sicherlich ein guter Sportler.
"Er hat dich gebeten zu gehen?" "Natürlich. Er hasst mich. Kein Wunder, dass er sich keine zwei Sekunden im selben Raum wie ich aufhalten kann"
"Ich glaube nicht das Jake dich hasst" "Ach ja? Dann bist du entweder blind, taub, beides zusammen oder ein bisschen dumm"
Er grinste und steckte die ebenfalls ein Gummibärchen in den Mund.
"Dumm ist diskriminieren. Es heißt intektuell benachteiligt"
"Danke, Herr Lehrer"
Ich hob noch ein Gummibärchen auf. Die Sonne hatte es ein bisschen angeschmolzen und es klebte an meiner Hand. Phils graue Augen beobachteten jede meiner Bewegungen genau.
"Ich geh besser einmal nach den Mädchen gucken"
Er stand auf.
"Nicht das die uns noch ersaufen..." "...es heißt ertrinken"
"Danke, Frau Lehrerin"

Allein in der Sonne zu liegen und auf die Anderen zu warten war langweilig. Ich hielt es keine fünf Minuten aus, langsam stand ich auf, streckte mich noch einmal in der Sonne und machte mich auf den Weg zum Schwimmbecken. Die Liegeflächen war ziemlich voll, viele Menschen zog es an diesem warmen Tag ins Freibad, doch niemand beachtete mich wirklich. Ich ließ meine Blicke über das Wasser schweifen, zumindest Nadys roter Schopf hätte eigentlich nicht zu übersehen sein dürfen. Auf dem ein Meter Springturm saß eine blonde Gestalt und ließ die Beine baumeln. Ich runzelte die Stirn: Für jemanden der angeblich so Wasserscheu wie ein Riesentukan war, benahm das ganz schön mutig. Warum tat Phil immer so etwas? Wollte er mich auf den Arm nehmen.
"Hey!"
Ich rannte in seine Richtung.
"Hast du die Suche schon aufgegeben?"
Phil blickte sich zu mir um und stand auf.
"Von hier oben seh ich sie jedenfalls nicht"
"Das ist ja auch nur einen Meter hoch!"
"Ja, aber..."
"Du bist so ein... intellektuell benachteiligter Schwachkopf! Was tust du da oben?"
"Keine Ahnung. Ich dachte es würde dich beeindrucken oder ich könnte die Mädchen sehen... okay. Eigentlich hab ich gar nicht gedacht"
"Dann komm da runter!"

Es sah fast so aus, als würde er springen, was aber natürlich vollkommen ausgeschlossen war.
"Spring doch endlich mal!", beschwerte sich ein Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt.
"Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!" Phil reagierte nicht. . Das Mädchen verdrehte wütend die Augen, trat auf das Brett und versetzte Phil einen ordentlichen Schubs, den ich einer so kleinen Person niemals zugetraut hätte. Seine grauen Augen weiteten sich vor Schreck. Er taumelte, versuchte irgendwie das Gleichgewicht zu halten, schaffte es jedoch nicht. Ich hatte keine Ahnung, warum er überhaupt fallen konnte, immerhin war er in der Lage zu fliegen, aber wenige Sekunden später strampelt er im Wasser. Ich konnte die Panik in seinem Gesicht sehen "Mia! Mia! Ich ertrinke!"
Einige Badegäste schauten sich nach ihm um, einige lachten. Es vermutet wohl niemand,dass jemand wie Phil nicht schwimmen konnte. In seine. Gesicht war das pure Grauen zu sehen.
"Es ist so dunkel... so kalt..."
Ein seltsames Déjà-vu Gefühl überkam mich. Hatte ich so eine ähnliche Situation nicht schon einmal erlebt? Ich rannte zum Beckenrand, kniete mich dort hin und streckte eine Hand nach Phil aus.
"Mia! Nicht! Du wirst fallen...."
Er spuckte Wasser.
"Selbst wenn! Im Gegensatz zu dir kann ich schwimmen! Gib mir deine Hand!"
Er schien sie nicht erreichen zu können und ich lehnte mich weiter vor. Irgendwie schaffte er es so mein Handgelenk zu packen, doch er war zu schwer und ich fiel kopfüber ins Wasser.

Ich durchbrach die Wasseroberfläche genau vor Phil.
"Ganz ruhig"
An meiner alten Schule, hatte ich einmal das Sportthema Abschleppschwimmen gehabt, allerdings hatte ich an diesem Tag geschwänzt, was ich jetzt ziemlich bedauerte.
"Okay... ähm... ich glaube du sollst dich an meinen Schultern festhalten...?"
Die Panik war Phil immer noch anzusehen.
"...Ertrinken"
Und plötzlich wusste ich, warum mir das alle so bekannt vorkam: Die gleichen Worte hatte ich schon einmal gehört, jedoch aus dem Mund eines Anderen. Eine von Jakes Visionen hatte sich gerade erfüllt.

Im Kreis der Elemente {Unüberarbeitete Fassung} Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt