Kapitel 1: »Willkommen auf der Eclipse« (Part 1)

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1912
    »Komm jetzt! Oder bist du ein Angsthase?«
»Was ist, wenn die Gerüchte wahr sind?«
    Die beiden Jungs standen vor dem riesigen, trockengelegten Segelschiff, von dem im Mondschein lediglich der bedrohliche Schatten zu erkennen war.
    »Das sind doch bloß alte Märchen! Es gibt keine Geister. Und jetzt komm endlich!«
Vorsichtig kletterten die beiden die morschen Sprossen einer Strickleiter hinauf auf das Deck. Der vermoderte Holzboden knatschte unter ihren Schritten. In der Ferne konnte man das Klimpern eines Windspiels hören. Ein leichter, warmer Wind zog um ihre Nasen, und über ihnen wehten die Fetzen eines alten Segeltuches. Auf dem Boden lagen einige aufgerauchte Joints. Weit und breit war niemand zu sehen.
    »Siehst du, hier sind keine Geister!«, lachte der eine Junge, zog eine Zigarette aus der Hosentasche und zündete sie an.
Plötzlich hörten sie ein rumpelndes Geräusch. Es kam aus dem Inneren des Schiffes. Der andere Junge zuckte zusammen.
    »Lass uns lieber wieder gehen«, flüsterte er.
    »Du hast doch nicht etwa Angst«, erwiderte sein Freund und grinste.
    Er ging zu einer verschlossenen Holztür in der Mitte des Decks, während er an der Zigarette zog, und öffnete sie mit einem quietschenden Geräusch.
    »Kommst du?«, fragte er und pustete den Rauch ins Innere des Schiffes.
    Der andere Junge folgte ihm zögerlich. Hinter der Tür befand sich eine Treppe, die ins Innere des Schiffes führte. Nach ein paar Stufen wurde es stockdunkel, da kein Mondlicht hineinschien. Nacheinander stiegen die beiden Jungs die Treppe hinunter.     »Mach mal dein Feuer an, ich kann nichts sehen!«, sagte der eine Junge.
    »BUH!«, rief der andere plötzlich und packte seinen Freund an den Schultern.
Dieser zuckte erschrocken zusammen.
    »Du Arsch!«
    »Jetzt entspann' dich doch einfach mal«, lachte der andere Junge. Vorsichtig tasteten sich die beiden weiter durch den finsteren Gang. Auf einmal hörten sie wieder ein dumpfes Poltern aus den Tiefen des Schiffes.
    »Was ist das nur für ein Geräusch?«, fragte der eine, warf seine ausgebrannte Zigarette auf den Boden und drückte sie mit dem Schuh aus. Sein Freund antwortete ihm nicht. Er drehte sich um, doch in dem stockfinsteren Gang konnte er nichts erkennen.
    »Lass das, ich hab' keine Angst im Dunkeln«, sagte er genervt.
    Doch es kam trotzdem keine Antwort, er konnte nicht mal mehr das Atmen seines Freundes hören.
    »Jetzt hör endlich auf!«
    Er fummelte das Feuerzeug aus der Tasche, hielt es vor sich und knipste es an. Er blickte direkt in das Gesicht einer dunklen Gestalt mit Kapuze. Sie packte den schreienden Jungen am Genick und zog ihn zu sich heran. Er konnte einen kalten Atem fühlen, während er spürte, dass das Leben aus ihm herausgesaugt wurde, bevor sein lebloser Körper neben seinem toten Freund zu Boden fiel.

*

2018 (Heute)
    »Es halten sich die Gerüchte, dass eine böse und uralte Kreatur das Schiff und die Gäste heimsucht. Immer wieder werden Sichtungen von Passagieren gemeldet. Nicht umsonst ist die Eclipse das geheimnisvollste Kreuzfahrtschiff im Atlantik! Nun liegt es an Ihnen, ob Sie den Mut haben, sich auf diese Reise zu begeben!«
    »Eine klassische Spukgeschichte also...«, murmelte Finn, während er auf den Laptop starrte und sich mit der Maus durch eine Internetseite navigierte.
    »Die Menschen lassen sich wirklich verrückte Sachen einfallen, um Gäste anzulocken. Aber vielleicht bekomme ich trotzdem ein paar gute Ideen für mein Buch...«
    Seine Gedanken wurden von einem lauten Schiffshorn unterbrochen. Das Zeichen, dass das Schiff nun abgefahren war. Als wäre er gerade aus einem tiefen Schlaf hochgeschreckt, schaute Finn von seinem Laptop auf.
    Er saß an einem Tisch in einem vornehm eingerichteten Restaurant. Der Fußboden und die Decke bestanden aus einem edel aussehenden, dunklen Holz, das an einigen Stellen mit einem geschwungenen Muster verziert war. Die Wände waren hellgrau gestrichen und mit kleinen Landschaftsbildern verziert. Durch die runden Bullaugen konnte man abwechselnd die Wellen und den Himmel sehen. Im ganzen Raum standen viele kleine, runde Tische, die mit weißen Tischdecken, pastellfarbenen Kerzen und geschnittenen Blumen geschmückt waren.
Gegenüber von Finns Tisch an der Wand hing ein großer Spiegel, der den Raum größer erscheinen ließ als er war. Finn betrachtete sich im Spiegel und richtete seine silberfarbene Halskette mit dem herzförmigen Anhänger. Er war ein gut aussehender, junger Mann mit dunkelblonden Locken und hellbraunen Augen. Er trug einen dunkelblauen, oversized Pulli und eine ebenso weite, olivfarbene Hose. Finn wandte seinen Blick vom Spiegel ab.
Inzwischen waren fast alle Tische belegt, und die Gäste warteten ungeduldig auf das versprochene 4-Gänge-Menü. Plötzlich betraten zwei Männer das Restaurant.
Der linke Mann war sehr kräftig und trug ein kurzärmliges, weißes Hemd, das er bis zur Brust aufgeknöpft hatte. Der Gürtel an seiner weißen Hose war mit einer goldfarbenen Schnalle geschmückt. Auf der Innenseite seines muskulösen, linken Oberarms konnte man ein Tattoo erkennen. Es hatte den Umriss von einem Seepferdchen. Sein Dreitagebart um den Kinnbereich ließ erkennen, dass er bereits graue Haare hatte. Die Spitze seiner knolligen Nase war ein wenig gerötet. An seinem linken Ohr befand sich ein kleiner schwarzer, runder Ohrring. Auf seinem Kopf trug er eine schwarz-weiße Mütze mit goldfarbenen Streifen und einem halbrunden Motiv mittig über der Stirn.
Er hatte ein Mikrofon in der Hand, das er nun schwungvoll an seine Lippen hielt, während er zusammen mit dem anderen Mann in einer selbstbewussten Körperhaltung auf die an den Tischen wartenden Gäste zuging.
»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich hier bei uns auf der Eclipse! Ich bin Ihr Captain, Malcolm Ryan. Das Schiff hat vor wenigen Augenblicken den Hafen von Willington, North Carolina verlassen. Genießen Sie die nächsten zwei Wochen auf unseren Decks oder bei gutem Essen und Trinken hier im Restaurant und in der Bar! Morgen wird das Schiff in Charleston, South Carolina anlegen. Ich möchte Sie auch herzlich zu unserer Happy Hour heute Abend in der Bar einladen. Dort wird sich auch die Besitzerin des Schiffes vorstellen. Wenn Sie noch Fragen haben oder Hilfe brauchen, wenden Sie sich einfach an meine Crew. Wir helfen Ihnen gerne weiter!«
Während das Publikum applaudierte, machte der Captain eine ausschweifende Handbewegung in Richtung des Mannes neben ihm, der mit ihm in das Restaurant gekommen war. Der Mann war etwas größer und schlanker als Captain Ryan. Sein kurzgeschorenes Haar und der gepflegte Dreitagebart hatten eine schneeweiße Farbe. Er hatte kleine schmale, braune Augen, eine große Nase, dünne Lippen und schaute sehr ernst. Er trug eine weiße Hose mit einem braunen Gürtel und ein hellblaues Hemd. Darüber hatte er einen langen weißen, bis zu den gleichfarbigen Schuhen reichenden Kittel an. Aus einer der vielen Brusttaschen schaute eine Brille heraus, die er dort verstaut hatte.
Der Mann hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und schaute mit einem durchdringenden Blick in die Runde, bis sein Blick kurz an Finn hängen blieb. Mit einem Mal wurde Finn ein wenig mulmig zumute. Der große Mann hatte etwas Unheimliches, Bedrohliches in seinem Blick. Der Applaus verstummte.
»Ich möchte Ihnen Dr. Dimitri Wolkow vorstellen!«, fuhr Captain Ryan fort, »Dr. Wolkow ist unser Schiffsarzt. Wenn Sie Beschwerden haben oder andere gesundheitliche Probleme bekommen sollten, dann gehen Sie zu Dr. Wolkow in die Praxis auf Deck 1!«
Dr. Wolkow spitzte die Lippen zu einem schmalen Lächeln und verbeugte sich mit einer eleganten Handbewegung. Wieder gab es einen Applaus. In diesem Moment ging die Saloontür zur Küche auf und ein dunkelhäutiger Mann im mittleren Alter betrat den Raum. Er ging auf Captain Ryan und Dr. Wolkow zu, die inzwischen genau in der Mitte des Restaurants zwischen den Tischen standen.
Der Mann trug eine weiße Kochjacke mit einem bordeauxroten Halstuch und schwarze Schuhe zu einer gut gebügelten, weißen Hose. Seine bernsteinfarbenen Augen wanderten von einem Tisch zum anderen, während er schüchtern lächelte und mit der linken Hand durch seine dunkelbraunen, kurzen Haare fuhr.
»Aber den wichtigsten Mann von allen dürfen wir natürlich nicht vergessen«, fuhr Captain Ryan lächelnd fort und klopfte dem Mann auf die Schulter, »Das hier, meine Damen und Herren, ist Elias Barnes, unser Chefkoch!«
Während es erneuten Beifall gab, nahm der Koch dem Captain das Mikrofon aus der Hand. »Vielen Dank«, sagte er, »Ich freue mich schon darauf, Ihnen das Menü des Tages zu servieren. In wenigen Augenblicken geht es mit dem ersten Gang los. Freuen Sie sich auf ein 4-Gänge-Menü, dass Sie so schnell nicht vergessen werden!«
Der Koch lachte und gab das Mikrofon an Captain Ryan zurück, bevor er wieder in Richtung Küche verschwand. Der Captain setzte das Mikrofon wieder an. »Ich wünsche Ihnen nun im Namen der ganzen Crew eine angenehme Reise auf unserem Schiff. Ahoi!«
Die beiden Männer verließen das Restaurant, während die Gäste noch einmal klatschten. Finn sah den beiden hinterher, klappte dann seinen Laptop zu und legte ihn an den Rand des Tisches, um Platz für das anstehende Menü zu machen.

    Nach dem Essen ging Finn mit seiner Laptop-Tasche in der Hand durch einen der langen Flure des Schiffes, während er in der anderen Hand mit dem Zimmerschlüssel klimperte. Der Flur war mit einem hellgrauen, edlen Fransen-Teppich geschmückt. Die Wände und die Decke bestanden aus demselben verzierten Holz wie das im Restaurant. Zwischen den Zimmertüren brannten an den Wänden einige unechte Gaslampen, die den Flur in ein dämmriges Licht tauchten. Obwohl es draußen noch hell war, schien kein Tageslicht herein. Es gab keine Fenster in dem Gang, da sich zu beiden Seiten die Kabinen für die Gäste befanden.
    »Nummer 18...«, murmelte er, während er auf den Schlüssel schaute.
    Wenn die Zimmernummer nicht auf dem Schlüssel und den Türen gestanden hätte, wäre es für Finn schwierig gewesen, unter all den gleich aussehenden Türen die Richtige zu finden. Schließlich hatte er sein Zimmer erreicht. Es war eine Zimmertür auf der linken Seite, die nach innen ins Schiff zeigte. Für ein Zimmer mit Fenstern hatte das Geld für Finn leider nicht gereicht. In Gedanken versunken steckte er den Schlüssel in das Schloss.
Doch bevor er die Tür ganz aufschließen konnte, hörte er plötzlich ein metallenes Geräusch aus dem Gang. Es klang so, als hätte jemand ein Schwert aus der Halterung gezogen. Verwundert drehte sich Finn um und schaute in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Doch als er den Gang hinunter blickte, konnte er niemanden sehen. Der Flur war absolut menschenleer. Unbeirrt wandte sich Finn wieder der Tür zu und drehte den Schlüssel einmal im Schloss um.
Mit einem Mal hörte er ein leises, kratziges Lachen direkt neben sich. Erschrocken wich Finn einen Schritt zurück und schaute sich um. Doch es war immer noch niemand da. Er spürte, wie ihm die Haare zu Berge standen und das Blut in seinen Kopf schoss.
Hatte er sich das nur eingebildet? Es musste so sein, schließlich war niemand hier. Plötzlich hörte er ein Fiepen in seinem Ohr, wie ein Tinnitus. Erst leise, dann immer lauter. Finn hielt sich die Ohren zu und sackte auf den Boden. Mittlerweile war es zu einem ohrenbetäubenden Brummen angeschwollen. Er konnte nichts mehr sehen, als hätte er einen Nebelschleier vor den Augen. Finn hatte das Gefühl, mehrere leise Stimmen zu hören, die ihm etwas zuriefen. Die Stimmen wurden lauter.
»Hängt ihn! Hängt ihn! HÄNGT IHN!!!«, konnte er immer lauter hören.
»Was passiert hier?«, schrie Finn verzweifelt.
Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war es wieder totenstill. Finn saß immer noch zusammengekauert auf dem Boden und hielt sich die Ohren zu. Langsam öffnete er die Augen und nahm seine Hände herunter. Als er zu beiden Seiten in den langen Gang blickte, konnte er niemanden sehen oder hören. Er war alleine.

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