Kapitel 1: »Willkommen auf der Eclipse« (Part 3)

21 3 1
                                    

    »Sie haben etwas gesehen?«, entfuhr es Finn. Doch bevor er genauer nachhaken konnte, tönte das laute Fiepen eines Mikrofons durch die Bar. Alle Gäste drehten sich überrascht in die Richtung um, in der der Flügel stand. Die junge Frau, die daran saß und nun ihre Hände in den Schoß legte, hatte aufgehört zu spielen und zu singen.
Vor dem Flügel stand in schwarzen High Heels eine Frau, die mit ihren weißen Samthandschuhen ein Mikrofon in der Hand hielt. Sie hatte lange, schwarze Haare, trug roten Lippenstift, Eyeliner und goldenen Schmuck. Ihr hellblaues Abendkleid, unter das sie eine schwarze Strumpfhose gezogen hatte, reichte ihr bis über die Knie und war an den Armen weit geschnitten.
    »Meine Damen und Herren«, sagte die Frau ins Mikrofon, »Nachdem Sie von unserem Captain bereits heute Mittag im Restaurant begrüßt wurden, möchte ich Sie nun auch herzlich bei uns auf der Eclipse willkommen heißen. Mein Name ist Amber Prescott, und ich bin die Besitzerin des Schiffes.«
    Die Gäste applaudierten. Finn konnte seinen Blick nicht von der Frau abwenden. Ihre selbstbewusste Körperhaltung und ihr perfekt zurechtgemachtes Äußeres lösten in Finn ein ganz merkwürdiges Gefühl aus, das er nicht beschreiben konnte. Er konnte nicht einmal sagen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Gefühl war.
    »Morgen werden wir den Hafen in Charleston, South Carolina, erreichen, bevor wir die Reise zu unserem Hauptziel, den Bermuda-Inseln, fortsetzen. Der Seeweg wird etwa drei Tage dauern, deswegen rate ich Ihnen, noch einmal das Festland morgen zu genießen.«
    Während Amber ein paar weitere Worte an die Gäste richtete, wandte Finn seinen Blick von ihr ab und schaute Viola von der Seite an. Diese saß mit versteinerter Mine da und starrte Amber an.
»Ist alles okay?«, flüsterte Finn Viola zu.
»Ja, alles gut...«, erwiderte Viola abwesend, ohne Finn anzusehen.
»...Wie Sie sicher wissen, ist morgen Halloween«, fuhr Amber fort, »Für diesen besonderen Tag möchte ich Sie herzlich zu unserem Halloween-Event am Abend in die Bar einladen.«
Es gab wieder einen großen Applaus. Amber lächelte in die Menge. »Nun wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend. Genießen Sie die Kreuzfahrt!«
    Unter Beifall gab sie das Mikrofon an die Frau zurück, die am Flügel saß. Amber winkte noch einmal in die Menge, dann ging sie hinüber zum Ausgang und verließ die Bar. Die Entertainerin, der sie das Mikrofon gegeben hatte, stimmte ein neues Lied an und setzte ihre Show fort.
    »Ist wirklich alles okay?«, fragte Finn noch einmal.
    »Es ist wirklich alles okay«, antwortete Viola und wandte sich nun wieder Finn zu, »Ich war gerade nur ein bisschen in Gedanken« Sie lächelte müde und erhob sich von ihrem Barhocker. »Es ist schon spät. Ich denke, ich werde jetzt in meine Kabine gehen.«
    »Okay«, erwiderte Finn und lächelte auch ein wenig. Viola umarmte ihn fest. Dann drehte sie sich um und wollte gehen.
    »Warte!«
    Sie drehte sich um. »Was ist denn?«
    »Möchtest du morgen mit mir aufs Festland gehen?«
Viola strich sich eine lockige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich... ich wollte morgen lieber auf dem Schiff bleiben.«
»Was willst du denn auf dem Schiff machen? Morgen ist doch der letzte Tag an Land«, sagte Finn enttäuscht.
»Du hast recht«, sagte Viola, nachdem sie kurz überlegt hatte, »Ich komme mit.«
Auf Finns Gesicht machte sich ein zufriedenes Lächeln breit. Viola lächelte müde zurück. Dann drehte sie sich wieder um, ging in Richtung Tür und verließ die Bar.

Finn blieb auf dem Barhocker sitzen und starrte in Gedanken versunken auf sein fast leeres Wasserglas.
»Wollen Sie noch etwas trinken?« Verwundert schaute Finn auf. Der Barkeeper hatte sich ein wenig über den Tresen zu ihm herüber gelehnt. »Einen Wein, oder vielleicht einen Cocktail?«, fragte ihn der junge Mann.
    Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Fliege mit weißen Punkten darauf. Über das Hemd hatte er eine dunkelblaue Weste gezogen. Seine gebügelte Anzughose hatte genau die gleiche Farbe wie die Weste. Der Mann hatte braune Augen und einen Dreitagebart. Seine dunkelbraunen Haare waren zu einem Mittelscheitel gekämmt. Das Tuch zum Polieren der Gläser hatte er sich über die Schulter geworfen.
    »Nein, danke. Ich hatte einen langen Tag. Alkohol würde mich jetzt nur runter ziehen.«, erwiderte Finn.
    Schmunzelnd schob der junge Mann ein Glas Orangensaft zu Finn herüber. »Der geht auf mich. Sie sind nicht der erste, der bei mir sitzt und einen schlechten Tag hatte.«
    »Danke«, sagte Finn und lächelte.
    Der Mann streckte Finn die Hand entgegen. »Ich bin Dylan Roberts!«
    »Finn Dalton«, antwortete Finn und schüttelte seine Hand.
    »Wollen Sie darüber reden?«, fragte der Barkeeper, »Ich bin ein guter Zuhörer.«
    »Nein danke«, winkte Finn ab, »Es geht mir inzwischen wieder besser. Die Frau, die neben mir saß, hat mir schon sehr geholfen.« Er grinste ein wenig verlegen. Doch dann setzte er wieder eine ernste Miene auf.
    »Sie haben vorhin gesagt, dass Sie hier auf dem Schiff etwas gesehen haben. Wovon haben Sie da geredet?«
Dylan nahm das Tuch von seiner Schulter, legte es vor sich auf den Tresen und beugte sich noch ein bisschen weiter zu Finn herüber.
    »Es war vor ein paar Monaten. Die Bar hatte hatte schon geschlossen, weil es schon so spät war. Ich bin wie jedes Mal, bevor ich Feierabend mache, in den Weinkeller gegangen, um neue Flaschen für den nächsten Tag zu holen. Als ich zurückkam, hörte ich eine leise Musik aus der Bar, als wenn jemand auf dem Flügel spielen würde. Ich bin langsam zur Tür gegangen und habe sie ein wenig aufgeschoben. Dann sah ich im Halbdunkeln zwei Schatten. Die beiden Personen haben zu der Musik getanzt. Eigentlich hatte die Bar ja schon geschlossen, also sagte ich, dass sie bitte den Raum verlassen sollen. Aber sie schienen mich nicht wahrzunehmen, also ging ich hinein und schaltete das Licht ein. Doch kaum wurde es hell im Raum, waren die beiden Personen verschwunden, und die Musik hatte auch aufgehört zu spielen. Erst dachte ich, ich hätte es mir vielleicht eingebildet. Es war ja schon spät, und ich war sehr müde. Vielleicht hatte ich nur geträumt. Aber als ich zum Flügel hinüberschaute, sah ich, dass die Tastenklappe geöffnet war. Normalerweise ist sie immer geschlossen, wenn niemand daran spielt. Da war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich es mir nur eingebildet hatte.«
    Finn, der gespannt zugehört hatte, bekam eine Gänsehaut. »Aber haben Sie eine Idee, wer oder was das gewesen sein könnte, wenn Sie es sich nicht eingebildet haben?«, fragte er.
    »Ich habe keine Ahnung«, gab Dylan zu und schüttelte den Kopf, »Und nicht nur ich habe solche merkwürdigen Dinge gesehen. Ab und zu sitzen auch Gäste bei mir an der Bar und erzählen, dass sie etwas Sonderbares gesehen hätten.«
    Finn trank einen Schluck von dem Orangensaft. »Ich habe vorhin auch etwas Gruseliges erlebt.«
    Der Barkeeper zog eine Augenbraue nach oben. »Was denn?«
»Als ich auf mein Zimmer gehen wollte, habe ich plötzlich Stimmen gehört. Sie wurden immer lauter, bis es plötzlich wieder ganz still war. Es war aber niemand dort.«
»Stimmen? Was haben sie gesagt?«
Finn schluckte. »Hängt ihn.«
In den Augen des Barkeepers zeichnete sich Unbehagen ab.
»Aber es kann sehr gut sein, dass ich es mir wirklich nur eingebildet habe«, fuhr Finn fort, »Meine Therapeutin sagte zu mir, dass so etwas eine Begleiterscheinung von meinem Burnout sein kann.«
»Das könnte natürlich eine Erklärung sein«, erwiderte Dylan.
Finn umklammerte sein Glas mit beiden Händen. »Glauben Sie an Geister?«
Dylan schüttelte den Kopf: »So gruselig manche Erlebnisse auch sind, es muss immer einen logischen Grund dafür geben. Auch wenn wir ihn nicht immer kennen.«
»Da haben Sie vielleicht Recht«, stimmte Finn zu.
»Trotzdem sind auf diesem Schiff bereits Dinge passiert, die auch ohne die Existenz von Geistern zum Gruseln sind.«
Finn schaute Dylan direkt in die Augen. »Was meinen Sie?«
»Vor ungefähr fünf Jahren war ein Mann Gast auf der Eclipse. Sein Name war...«
    »Entschuldigung, wir hatten Wein bestellt«, unterbrach ihn ein Mann, der zu Finn und Dylan an die Bar gekommen war.
Dylan schreckte hoch, als wenn er gerade aus einem Tiefschlaf geweckt worden wäre. »Oh nein! Der Wein!« Er sprang auf und wandte sich hastig noch einmal Finn zu. »Sorry, jetzt habe ich mich schon wieder verquatscht. Ich muss noch ein paar Flaschen auffüllen und die Bestellungen fertig machen. Lassen Sie uns ein anderes Mal darüber reden!«
    Mit diesen Worten drehte sich der Barkeeper um und lief eilig aus der Bar. Finn sah ihm nach. Dann trank er den letzten Schluck von seinem Orangensaft, stand auf und machte sich auf den Weg zu seinem Zimmer.

*

    »Auf uns!«
    »Cheers!«
    Captain Ryan und Dr. Wolkow saßen in Ryans Suite. Die verhältnismäßig große Kabine wirkte durch die großen, abgerundeten Fenster mit den roten Gardinen alles andere als beengend. Der rote Teppich, mit dem der Boden ausgelegt war, hatte ein goldfarbenes Muster. Die Wände und die Decke bestanden aus glänzend poliertem, dunklem Holz. Rechts neben der großen Tür befand sich ein gemütlich aussehendes Bett mit weißer Bettwäsche. Daneben stand ein hölzerner Schreibtisch, auf dem viele Unterlagen und Mappen sorgfältig gestapelt waren. Zwischen den Fenstern standen mehrere Schirmlampen, die das Zimmer in ein warmes Licht tauchten.
Der Captain und der Schiffsarzt hatten sich auf zwei Holzstühlen mit roten Polstern, die um einen kleinen runden, hölzernen Tisch standen, vor einem der großen Fenster niedergelassen. Ryan hatte seine Uniform abgelegt und trug ein schickes, hellgraues Hemd zu einer schwarzen Anzugshose. Wolkow hatte ein weißes Hemd mit einer schwarzen Fliege und eine graue Hose an. Beide hielten ein Glas mit Whiskey in der Hand und prosteten sich zu.
    »Darauf, dass wir hoffentlich bald eine ganze Menge Geld haben werden«, lachte der Captain vergnügt und trank einen Schluck aus seinem Glas.
    »Keine Sorge, das werden wir haben«, erwiderte Dr. Wolkow und verzog seine schmalen Lippen zu einem Lächeln.
»Wie kommst du mit deiner Forschung voran?«, fragte Ryan. Sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal sehr ernst. »Du weißt, dass uns die Zeit davonläuft. Wir können das nicht ewig von der Öffentlichkeit fernhalten. Die Leute werden Fragen stellen.«
»Die Forschung steht kurz vor ihrem Abschluss«, antwortete Wolkow, stellte sein Whiskeyglas auf den kleinen Tisch und rückte seine Fliege zurecht, »Und glaub mir, die Leute werden keine Fragen stellen. Dafür werde ich sorgen!«
    »Aber sei vorsichtig, Dimitri. Wir können uns keinen weiteren Skandal mehr leisten. Das Hotel wurde vor fünf Jahren schon einmal geschlossen, wenn du dich erinnerst. Du weißt, warum!«
    »Natürlich«, sagte Wolkow, griff nach dem Glas und trank auch einen Schluck Whiskey, »Aber was soll passieren? Du hast mir ungenutzte Räume im untersten Teil des Schiffes zur Verfügung gestellt. Da wird nie jemand vorbeikommen, und wenn doch, wird erst recht niemand Verdacht schöpfen.«
    »Du darfst nur nicht leichtsinnig werden.«
    »Das wollte ich damit auch nicht sagen. Vertrau' mir, ich hab' für alles einen Plan.«
    »Ich weiß nur einfach nicht...« Ryan stockte und starrte nachdenklich auf sein Glas.
    »Was denn?«, hakte Wolkow nach.
    »Ist diese Art Forschung das Richtige? Wir mussten schon so viele Opfer bringen.«
    »Das gehört nun mal dazu. Du musst das große Ganze sehen. Denk doch nur mal an das ganze Geld, dass wir machen werden!«
Der Captain nickte, lächelte ein wenig und trank einen weiteren Schluck von dem Whiskey.
Dr. Wolkow legte seine Hand auf Ryans Schulter. »Wenn meine Forschung erst einmal zu ihrem Abschluss gekommen ist, wird sich niemand mehr für die Opfer interessieren. Jedes Wissen hat nun mal seinen Preis.«

A Cruise Horror-StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt