2012
Ein lauter Donner war zu hören, während sich die Eclipse unter dem starken Wellengang des Sturms auf und ab bewegte. Die Tür zu ihrer Kabine wurde aufgerissen, und Elias zwängte sich hastig hindurch.
»Auf so einen starken Seegang waren wir nicht vorbereitet. Die Crew wird nun alle Außenbereiche sperren. Es ist viel zu gefährlich draußen!« Als er Lee und ihren erschrockenen Blick sah, stockte er. »Wo... ist Adrian?«
»Ich dachte, er wäre bei dir!« Lee sprang hektisch vom Bett auf. »Hat er sich etwa wieder davongeschlichen?«
»Wahrscheinlich«, entgegnete Elias nur.
»Aber dann ist er bestimmt wieder an Deck gelaufen! Wir müssen ihn suchen! Schnell!« Lee wollte an Elias vorbei, doch dieser hielt sie zurück.
»Nein, Lee. Ich werde gehen. Du bleibst hier! Es ist riskant, jetzt an Deck zu gehen. Der Wind ist viel zu stark.«
In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, gefolgt von einem dumpfen Ächzen, das sich von oben durch sämtliche Etagen des Schiffes nach unten zu ziehen schien. Lee erstarrte. Dieses Geräusch klang so gruselig, dass es sie bis ins Mark erschüttert hatte.
»Was... war das?«, flüsterte sie ängstlich.
»Das weiß ich nicht. Aber es klang nicht gut. Ich werde jetzt Adrian holen. Du bleibst hier und wartest!« Er drehte sich um und verschwand schnellen Schrittes hinaus auf den Korridor.
Lee starrte eine ganze Weile auf die noch einen Spalt breit geöffnete Tür. Sie spürte die starken Wellen und hörte das leise Pfeifen des Windes, während sich in ihr ein schleichendes Panikgefühl ausbreitete. Hoffentlich ging es Adrian gut! Er war ihr ein und alles. Er war ihr Baby. Ihm durfte nichts passieren. Seit Elias und sie letztes Jahr auf der Eclipse als Chefkoch und Hausdame zu arbeiten begonnen hatten, war es organisatorisch immer möglich gewesen, dass der eine auf Adrian aufpassen konnte, während der andere arbeitete. Das ging auch fast immer gut, jedoch hatte Adrian eine neugierige Natur, und er musste immer alles entdecken und anfassen. Wie die meisten Fünfjährigen. Es war schon öfter passiert, dass er einfach weggelaufen war, um an Deck zu spielen, aber zumindest wusste sie immer, wo er war. Aber jetzt war sie sich doch nicht mehr so sicher. Sollte sie Elias hinterherlaufen und ihm bei der Suche helfen?
Das Quietschen der Tür ließ sie aus ihren Gedanken hochfahren. Vor Elias, welcher sich sein Gesicht im Schatten des düsteren Korridors versteckte, stand ein schlanker Mann mit pitschnassen angegrauten, dunkelbraunen Haaren in der Türschwelle. Sein dunkler Anzug tropfte ebenfalls vor Nässe. Er hielt etwas in seinen Armen, bedeckt von einem feuchten, schmutzigen Leinentuch. Es hing schwer und klebte an den Konturen des Körpers, welcher sich darunter befand. Der Mann öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen. Lee wünschte sich, er hätte es nicht getan. Als würde dies die unausweichliche Endgültigkeit beeinflussen. Die schwere Wahrheit, mit der sie sich nun konfrontieren musste.
»Es tut mir so unendlich Leid«, sagte James Prescott, »Einer der Masten ist durch den Wind gebrochen. Adrian stand darunter. Es hat ihn erwischt. Lee... Er ist tot.«*
2018 (Heute)
Ein leises Ratschen, dann loderte die kleine Flamme auf. Ihre Hände zitterten leicht, während sie die weißen Kerzen der Reihe nach mit dem Streichholz entzündete. Der schwache Schein flackerte unruhig an den geschlossenen Vorhängen ihrer Kabine.
Lee richtete ihren Blick auf das kleine Foto, das vor ihr neben dem Stoffhasen auf dem Tisch lag. Es war immer ihr Lieblingsbild von Adrian gewesen. Er hielt sein graues Stofftier fest im Arm schaute mit seinem spitzbübischen Grinsen direkt in die Kamera. Genau so hatte sie sein Lächeln in Erinnerung. Ihre Finger strichen sanft über seinen Kopf, als könnte sie ihm noch einmal durch die Haare wuscheln, wie sie es damals immer gemacht hatte. Er hatte es nie gemocht, wenn sie das tat, aber sie hatte seine weichen, braunen Haare immer geliebt.
Als Adrian starb, war für sie nicht nur eine Welt zerbrochen. Es war, als wäre sie an jenem Tag selbst gestorben. Die meisten Ehen wären wahrscheinlich daran zugrunde gegangen, aber Elias und sie hatten gekämpft. Um das, was ihnen noch blieb. Fast hätten sie es nicht geschafft, aber dann kam Amber und fing sie auf. Es hatte sich angefühlt, als wäre Amber der rettende Engel gewesen. Die Lücke, die Adrian in ihr Leben gerissen hatte, konnte Amber ein Stück weit auffüllen. Eine Dreierbeziehung wäre früher ganz sicher nie für Elias und sie infrage gekommen, aber unter diesen Umständen hatte es sich richtig angefühlt. Auch wenn Amber zu dieser Zeit eigentlich bereits einen Mann an ihrer Seite gehabt hatte: James Prescott.
Doch natürlich war diese Beziehung nicht für die Ewigkeit. Sie hatte es schon von Anfang an geahnt. Irgendwann waren Elias und sie schließlich an einem Punkt angelangt, wo sie keine weitere Person in ihrer Ehe brauchten, um eine Lücke zu füllen. Natürlich hatte sie Amber geliebt, aber das Band mit ihrem Ehemann war deutlich stärker gewesen.
Der Tag, an dem die beiden sich von Amber trennten, war ihr eigener Todestag. Amber hatte sie aus ihrer Emotion heraus getötet. Sie erinnerte sich noch an den Moment, als sie realisierte, dass sie zwar tot, aber nicht verschwunden war. Ein Geist, oder so etwas in der Art. Gebunden an dieses Schiff, bis sie eines Tages verblassen würde. Panik, Hilflosigkeit.
War es Adrian genauso ergangen, als er starb? Hatte er sich auch so einsam und schrecklich gefühlt? War er überhaupt noch hier, als Geist? Warum hatte er sich ihr nicht gezeigt? In all den Jahren? Nachdem sie monatelang erfolglos nach ihm gesucht hatte, musste sie die Hoffnung, ihn doch noch zu finden, aufgeben. Aber nun hatte ein Gast einen Jungen gesehen. Einen Jungen namens Adrian. Tatsächlich hatte sie genauso wie Elias das Gefühl, dass es kein Zufall war, aber sie wollte sich nicht erneut falsche Hoffnungen machen. Aber dafür war es jetzt wohl zu spät.
Lee seufzte gedankenverloren und atmete einmal tief durch. Sie spürte, wie ihr Herz begann, schneller zu schlagen.
»Also gut...«, murmelte sie leise vor sich hin, während sie beide Handflächen auf den Tisch legte.
»Adrian... Ich bin es, Mom. Kannst du mich hören?«
Nichts.
»Ich vermisse dich ganz schrecklich.«
Nichts.
»Wenn du hier bist, dann komm zu mir.«
Nichts.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben, ich bin da.«
Nichts.
»Ich... bin doch... da...« Ihre Stimme wurde von den Tränen erstickt.
Nichts.*
Das leise Klicken der Tastatur erfüllte den stillen Raum, untermalt von dem leisen Summen des Computers. Wolkow saß, den Blick auf die medizinischen Dokumente konzentriert, an seinem weißen Schreibtisch. Auch wenn die Praxis sich im Inneren des Schiffes befand und es keine Fenster im Zimmer gab, hatte er das Gefühl, das leise Pfeifen des stärker werdenden Windes zu hören, welcher den Sturm, der für heute Abend angesagt war, ankündigte.
Ein kühler Luftzug strich ihm über den Nacken. Für einen Moment war es, als wäre seine Hand an der Maus festgefroren. Verwundert drehte er sich zur Tür um. Hatte er sie nicht vorhin geschlossen? Ja, die Tür war zu. Hatte er sich den Luftzug nur eingebildet?
Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Vermutlich lag es daran, dass er zu viel gearbeitet hatte. Die derzeitige Situation war aber auch sehr stressig. Es wäre das Beste, wenn er mit dem Barkeeper und der Entertainerin in seiner Zelle so schnell wie möglich fertig werden würde.
Plötzlich nahm er ein Geräusch hinter sich wahr. Erst ganz leise, dann immer deutlicher. Es klang wie ein entferntes Wispern. Es wurde lauter. Als würde jemand am anderen Ende des Raumes etwas flüstern und dabei langsam auf ihn zugehen. Er sah erschrocken von dem Computer auf. Doch er konnte niemanden sehen.
»Wer... wer ist da?« Seine Stimme war brüchig.
Keine Antwort. Stille. Nur das leise, rhythmische Ticken der Wanduhr hinter ihm.
Er war anscheinend wirklich überarbeitet. Er sollte sich vielleicht eine Weile hinlegen. Aber vorher mussten die Dokumente noch ausgefüllt werden.
Während er gerade wieder in Gedanken versank, schien die Luft im Raum plötzlich dichter zu werden. Ein modriger, aber süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase. Er kannte ihn nur zu gut. Der verwesende Gestank von Leiche war unverkennbar. Als wenn ein Kadaver in seiner Nähe lag. Wolkow hielt den Atem an. Wo kam dieser Geruch her?
Dann sah er es. In der spiegelnden Oberfläche des Computers. Schwach und verschwommen, konnte er die Umrisse einer Gestalt erkennen. Sie stand direkt hinter ihm. Sein Herz fing an zu rasen, und er wirbelte erschrocken herum. Doch niemand war dort. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken herunter.
Bevor er richtig realisieren konnte, was hier gerade passierte, flackerten plötzlich sämtliche Lichter im Raum auf. Sogar der Computer.
»Ich sagte doch, dass wir noch nicht fertig miteinander sind!«
Wolkow stöhnte vor Schreck auf. In dem Augenblick, als das Licht wieder vollständig anging, stand eine Frau direkt vor seinem Schreibtisch, aufgetaucht aus dem Nichts. Ihre pechschwarzen Haare waren so streng zu einem Dutt gebunden, dass er ihr regelrecht die Gesichtsfalten liftete. Ihr langes, strahlend weißes Kleid schliff den Boden. Fast schon diabolisch lächelnd beobachtete sie, wie er überwältigt in seinem Stuhl zusammensackte.
»J...Jenna?!«
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A Cruise Horror-Story
HorrorFinn hat eine Schreibblockade. Der junge Autor hat keine andere Wahl, als sich eine Auszeit zu nehmen. So kommt er, nach Inspiration suchend, auf die Eclipse, ein mysteriöses Kreuzfahrtschiff, das durch den Atlantik fährt. Doch auf dem Schiff ist ni...