Kapitel 3: »Das Event« (Part 1)

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Leise drückte Amber den Deckel der hölzernen Kiste, in der sie sich zusammengekauert hatte, mit beiden Händen ein wenig nach oben. Sie spürte die starken Wellen, die sie immer wieder hin und her schaukelten. Vorsichtig schaute sie durch den schmalen Schlitz. In den Frachtraum fiel kein Tageslicht, deswegen war es beinahe stockdunkel. Dennoch konnte sie in der Dunkelheit eine Menge weiterer Kisten und verschiedene, in Leinentücher eingewickelte Gegenstände erkennen. Sie war alleine. Mit einer vorsichtigen Bewegung griff Amber nach einem Stück Brot, das in einem Korb neben ihr lag, und biss hinein.
    Plötzlich hörte sie einen lauten, dumpfen Schrei vom Deck. »PIRATEN!«
Panisch kauerte sich Amber zusammen und ließ den Deckel der Kiste zufallen. Im nächsten Moment hörte sie Schüsse und Schreie, die vom Deck kamen. Es klang nicht wie Kanonenschüsse, sondern wie Pistolen. Angsterfüllt und mit zittrigem Atem wartete sie ab. Sie konnte nicht sagen, ob es nur ein paar Minuten oder mehrere Stunden waren. Schließlich verstummten die Schreie und die Schüsse. Amber traute sich nicht, einen einzigen Muskel zu rühren. Was war auf dem Deck passiert? Konnte die Crew sich gegen die Piraten verteidigen?
Im nächsten Moment hörte sie, wie die Luke zum Frachtraum geöffnet wurde. Es ertönten ein paar aufgeregte, raue Stimmen, die wild durcheinander redeten.
»Ein ausgezeichneter Fang!«
»So viele Schätze! Der Captain wird sich freuen!«
Verzweifelt versuchte Amber, so ruhig wie möglich zu bleiben und sich nicht zu bewegen. Doch die Panik breitete sich immer weiter in ihr aus. Schließlich konnte sie es nicht mehr zurückhalten, und ihr entfuhr ein angsterfülltes Wimmern. Mit einem Mal wurde es ganz still im Raum.
»Hast du das auch gehört?«, fragte die eine Stimme.
Amber hörte Schritte. Sie kamen immer näher. Dann wurde der Deckel der Kiste ruckartig aufgerissen.
»Wen haben wir denn hier?« Die zusammengekauerte Amber blickte direkt in das Gesicht eines Mannes mit einem eingefallenen Gesicht. Er hatte einen ungepflegten Dreitagebart und trug ein einfaches, löchriges Gewand. Amber schrie auf.
»Ihr kommt mit mir!«, knurrte der Mann, packte Amber am Arm und zog sie aus der Kiste.
»Nein! Bitte!«, schrie Amber verzweifelt und versuchte, sich loszureißen. Aber dem kräftigen Griff des Mannes konnte sie nicht entkommen.
»Bitte! Tut mir nichts! Ich möchte nur nach Neuengland!«
»Mal sehen, was der Captain zu unserem Fang sagt!«, erwiderte der Mann und zerrte sie durch die Luke hinauf an das Tageslicht. Die anderen Männer folgten ihnen.
Als Amber das Schauspiel auf dem Deck erblickte, entfuhr ihr ein angsterfülltes Stöhnen. Auf dem Boden lagen mehrere tote Matrosen. Manche waren von einer Kugel getroffen worden, andere waren mit Schwert-Einschnitten übersät. Der Boden war ein einziges Blutbad. Von den Segelmasten hingen ebenfalls einige Besatzungsmitglieder. Sie waren an Stricken aufgehängt worden.
    »So so. Ein blinder Passagier!«, sagte ein Mann, der mit einigen anderen Piraten auf dem Deck stand. Er trug einen großen, schwarzen Hut, hatte lange, dunkle Haare und einen vollen Bart. Seine Robe war dunkelbraun und hatte rote Streifen.
    »Wir haben sie im Frachtraum gefunden, Captain!«, zischte der Mann, der sie immer noch am Arm festhielt. Er packte sie und warf sie dem Captain vor die Füße.
    »Wen haben wir denn da?«, fragte dieser, während Amber sich panisch aufrappelte. Er musterte sie mit einem abfälligen Blick.
    Sie trug ein langes, beiges Kleid, das so lang war, das es ihre Knöchel bedeckte. Um die Schultern war bordeauxroter Stoff genäht, und am Rockzipfel und an den Ärmeln waren dunkelblaue Streifen eingestickt. An der Taille war das Kleid mit einem Gürtel aus grauem Stoff zusammengebunden. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem lilafarbenen Stein.
    »Was macht Ihr auf einem Frachtschiff von England nach Amerika?«, fragte der Captain mit einem höhnischen Grinsen und beugte sich zu ihr herunter.
    »Ich... ich...«, stammelte Amber. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie nicht einen klaren Gedanken fassen konnte.
    »Was machen wir mit ihr, Captain?«, unterbrach sie einer der Piraten, »Sollen wir sie über Bord werfen?«
    »Nein...«, murmelte er, »Sie gehört jetzt uns! Sperren wir sie im Frachtraum ein. Wir verkaufen sie!«
Plötzlich fiel der Blick des Captains auf ihre goldene Kette.
    »Was haben wir denn da?«, sagte er mit einem Grinsen und griff nach der Kette.
    »Finger weg!«, schrie Amber. Plötzlich wurde der Captain wie von einer unsichtbaren Macht nach hinten gerissen, und er fiel rückwärts auf den Holzboden.
    Die Piraten verharrten für einen Moment regungslos.
    »Sie... sie ist eine Hexe!«, schrie der Captain, während er auf Amber zeigte und sich mühselig versuchte, vom Boden zu erheben, »HÄNGT SIE!«
    Ehe Amber sich versah, wurde sie von mehreren Piraten an Händen und Füßen gepackt.
    »NEIN!«, schrie sie verzweifelt und versuchte, sich zu befreien. Es gab jedoch kein Entkommen.
    »Hängt sie! Hängt sie! Hängt sie!«, riefen die Männer im Chor, während einer der Piraten einen Strick mit einem geübten Wurf über den Mast zog. Blitzschnell wurde das andere Ende um Ambers Hals gelegt.
    »Dafür... dafür werdet ihr bezahlen! Jeder Einzelne von euch! Das verspreche ich euch!«, schrie Amber.
    »ZIEHT SIE HOCH!«, befahl der Captain. Die Piraten begannen gemeinsam, das andere Ende des Strickes über den Mast zu ziehen. Die Schlinge um Amber zog sich fest zu. Dann wurde sie hochgezogen.
    »Bindet sie fest!«, rief der Captain. Die Männer banden den Strick an einem weiteren Mast fest. Triumphierend ging der Captain auf Amber zu, die am Strick baumelte und mit letzter verzweifelter Kraft versuchte, sich zu befreien.
    »Wir werden nicht bezahlen! Wir sind Piraten!«, lachte er in einem spöttischen Ton.
    »I...ihr werdet- ihr werdet- bezahlen...«, röchelte Amber mit erstickender Stimme. Dann ließ sie die Arme sinken, und ihr Körper baumelte leblos an dem Strick.
»An die Arbeit, Männer!«, wandte sich der Captain seiner Crew zu, »Wir haben noch viel zu tun!«

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