Justine
Athena wieherte erneut. Charlie steckte seinen Kopf über meine Schulter und beäugte die Stute. Er strich zart über den Bauch der Stute und hatte seine Ohren starr nach vorn gerichtet. Ryan stand gemütlich daneben und störte sich nicht weiter an der Situation. Hin und wieder sah er von dem saftigen grünen Gras auf, wenn Athena wieherte. Sonst schien ihn die Sache gar nicht zu interessieren.
„Vic, nimm schon mal einen Arm voll Stroh zur Seite, zum Trockenrubbeln vom Fohlen nachher. Sonst wird das Stroh schmutzig bei der Geburt von der Fruchtblase und so, verstehst du?"
Vic nickte, teilte eine gute Portion Stroh ab und legte es Beiseite. Ich stand auf und setzte mich wieder am Zaunrand auf die Baumstammbank ans Feuer. Vic folgte mir fünf Minuten später. Langsam wurde es kühler. Ich warf mir eine Decke über die Schultern, die ich noch zusätzlich in den Rucksack gepackt hatte. Vic hatte eine dicke Winterjacke an, er brauchte keine weitere Decke. Athena stöhnte ab und zu unter Schmerzen, wieherte. Ansonsten gab es keine lauten Bemerkungen von ihr. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Jetzt wurde es kälter. Vic legte einen Arm um meine Schultern. Mir wurde gleich wärmer. Aber ich war nicht überzeugt, dass das daran lag, dass Vic's Arm so schützend war. Es lag mit Sicherheit daran, dass ich nervös wurde. Ich war einem Jungen noch nie so nah gekommen.
Eine gute Stunde später begann Athena zu keuchen. Ich sprang auf, vergaß die Kälte und flitzte zu der Stute rüber. Vic folgte mir im Eiltempo. Es war mittlerweile halb 9 und schon stockduster. Ich leuchtete Athena mit der Taschenlampe ab. Sie war an einigen Stellen vor Schweiß dunkel gefärbt. Ihre Fruchtblase war bereits geplatzt. Und dann sah ich unter dem Schweif zwei spindeldürre Beinchen herausgucken. Es war soweit.
„Vic!", sagte ich mir zitternder Stimme. „Hol mal das Blatt, wo das Wasser drin war und hol neues! Am besten vier Blätter voll!" Er stand langsam auf, um Athena nicht zu erschrecken und rupfte drei weitere Blätter von der Taro Palme ab. Dann lief er zum Wasser und füllte die Blätter randvoll. Aber er musste zweimal gehen, denn er hatte keine vier Arme.
Ich strich der Stute über den Hals. Er war schweißgebadet. Ich sah, wie sich ihr Körper anspannte und wie sie presste. Aus dem Geburtskanal rückte das Fohlen wieder ein Stück hinaus. Jetzt war schon der halbe Kopf zu sehen. Noch zwei Wehen, dann hatte Athena es geschafft. Bis zur nächsten Wehe dauerte es ungefähr eine Minute. Dann presste die gescheckte Stute wieder mit aller Kraft. Diesmal kam das Fohlen bis zum Bauch heraus. Ich krabbelte zu dem leblosen Fohlen und wartete bis zur nächsten Wehe. Als ich merkte, dass die Stute wieder presste und Vic meinen Plan erfasst hatte und den Haufen Stroh holte, fasste ich mit beiden Händen an die Vorderbeine des Fohlens und zog daran. Ich fasste nur ganz sachte zu, denn die dürren Beinchen wirkten sehr zerbrechlich. Ich zog und keuchte und mit einem dumpfen Plumps-Geräusch lag das dünne Fohlen vor mir. Vic eilte zu mir herüber und half mir, das Fohlen trocken zu rubbeln. Athena blieb einen Moment erschöpft liegen, hob dann aber den Kopf und beäugte ihr Fohlen neugierig. Dann stand sie auf und stupste ihr Neugeborenes an. Ich erkannte, dass das Fohlen ein kleiner Hengst war. Erschöpft ließ ich mich zurück ins Gras fallen und lächelte glücklich. Dann richtete ich mich wieder auf und sah staunend zu, wie der Kleine seine Mutter beschnüffelte. Als diese ihn erneut aufmunternd anstupste, versuchte er aufzustehen, um die begehrte Muttermilch zu trinken. Ich erkannte den kleinen Hengst fast gar nicht, also musste seine Fellfarbe dunkel sein. Aber ich wollte bis zum nächsten Morgen warten, um Einzelheiten zu erkennen.
Vic legte seinen rechten Arm um meine Schultern und fragte leise: „Na, wie wollen wir den Kleinen nennen?"
„Das habe ich mich auch schon gefragt", murmelte ich und überlegte. Auf einmal durchfuhr mich ein Gedankenblitz.
„Wie wäre Freedom? Ich meine, wir haben es hier mit einem echten wildem Hengst zu tun, der seine Freiheit lebt!", fragte ich aufgeregt.
Vic nickte im Dunkeln.
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Die Eisrosenkönigin
FantasyManchmal kann es echt schwer sein, nichts von seiner Gabe und unglaublichen Kreaturen zu wissen, die es tatsächlich gibt. So glaubt es Justine, ein 17-jähriges Mädchen aus einem gewöhnlichen Dorf und einer gewöhnlichen Familie. Sie begibt sich auf e...