Kapitel 2

52 10 4
                                    

"Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler.", begrüßt uns Frau Müller, meine Deutschlehrerin. 

Ich lasse mich auf einen freien Platz fallen und sehe mich im Raum um. Es waren noch nicht viele Leute da, obwohl der Unterricht schon vor zwei Minuten begonnen hatte. 

"Guten Morgen.", wiederholt unser Kurs im Chor. Langsam treffen immer mehr Leute ein. Frau Müller begrüßt jeden nur mit einem genervten Augenrollen. 

"Okay, wir beginnen jetzt mit dem Unterricht!", meint sie mit strengem Unterton. Sie zieht einen Whiteboard-Marker aus ihrem Mäppchen und schreibt zwei Wörter an die Tafel. Liebe ist...
"Da wir uns gerade mit Liebeslyrik beschäftigen, möchte ich von Ihnen einmal hören, was Liebe bedeutet. Natürlich muss das nicht um Ihre Liebesbeziehungen bis jetzt gehen, sondern kann genauso gut um Liebe zu Ihrer Familie, Ihren Freunden oder einem Gegenstand handeln."

"Objektophilie", ruft jemand rein. Alle beginnen zu lachen. Ich drehe mich um, auch wenn ich es mir eigentlich schon denken konnte. Es war Ethan. Mein Ex-Freund. Am Anfang des Schuljahres waren wir schließlich noch so verknallt gewesen, dass wir beide den Deutschkurs gewählt hatten. Jetzt sitzen wir hier zusammen, frisch getrennt. 

Mein Blick kreuzt sich kurz mit dem von Ethan, dann gleitet er weiter durch den Raum. Mein Herz beginnt stillzustehen, um dann wieder los zu pochen. SIE ist da. Das Mädchen aus dem Selbstlernzentrum gestern. Ich habe sie noch nie hier gesehen und könnte schwören, dass sie bis gestern auch noch nicht in diesem Kurs ist. 

"Das habe ich damit nicht gemeint, Ethan. Wenn Sie jedoch eine Zuneigung zu Objekten verspüren, können Sie selbstverständlich auch darüber schreiben. Aber wo wir schon dabei sind, ich würde gerne Ihren Kurz-Aufsatz hören." Frau Müller sieht meinen Ex-Freund auffordernd an. Ich kann mir ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen. 

Ethan sieht Frau Müller eine Weile mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann steht er genervt auf und stellt sich vor die Tafel. Mein Blick hängt die ganze Zeit an ihm. An seinen dunkelblonden Wuschelhaaren und den grünblauen Augen. Er ist ein gutes Stück größer als ich und trägt heute ein schwarzes T-Shirt. Dadurch kommen seine Muskeln ganz besonders zum Vorschein. 

Ich höre ein paar Mädchen schmachten und flüstern. Dass mein Ex-Freund der Schwarm der ganzen Stufe ist, ist mir natürlich nicht unbewusst. Auch während wir zusammen waren, kam es deswegen immer wieder zu unangenehmen Situationen. Trotzdem war er mir immer treu gewesen. Er hatte mir von jedem Vorfall mit Mädchen erzählt und jedes Mal gesagt, dass er bereits eine Freundin hat. Manchmal hat er mich sogar zur Bestätigung vor dem Mädchen, das nach seinem Insta gefragt hat, geküsst. Ich fand das echt süß. Anscheinend muss er aber inzwischen gemerkt haben, dass es viele hübschere Mädchen als mich auf dieser Welt gibt. 

"Ähm, ja also...", setzt Ethan an. Er knetet nervös seine Hände und sieht immer wieder auf den Boden. 

"Wo ist Ihr Aufsatz, Ethan?" Frau Müller sieht ihn streng an. 

"In meinem Kopf.", erwidert mein Ex-Freund jedoch nur und grinst, was wieder einige Mädchen zum Tuscheln bringt. Okay, ja, er sieht gut aus, wenn er lächelt. Ich habe dieses Lächeln an ihm geliebt, als wir noch zusammen waren. Inzwischen scheint es jedoch nur noch bescheuert. Zumindest in meinen Augen. Alle anderen Mädchen in diesem Kurs scheinen das anders zu sehen. 

"Aha? Dann legen Sie mal los." Frau Müllers Blick wendet sich nicht von Ethan ab, der weiter herumdruckst. 

"Ähm, Liebe ist, also... ein Gefühl. Ein, ähm, sehr schönes Gefühl. Es kann, ähm ja, also schön sein. Und, äh ja."

"Vielen Dank für diesen hervorragenden Aufsatz, Ethan.", erwidert Frau Müller sarkastisch und notiert etwas in ihrem Kursbuch. Ethan jedoch lächelt nur und erntet damit wieder Aufmerksamkeit von seinem Fanclub. 

"Wie sieht es mit Ihnen aus, Yuna? Haben Sie die Aufgabe schon erledigt oder mussten Sie sich gestern erstmal hier zurecht finden?", wendet sich Frau Müller an sie. SIE. Das Mädchen von gestern. 

"Yuna ist erst seit gestern hier. Ihre Mutter ist gestorben und ihr Vater hat sie vergewaltigt. Deswegen wohnt sie jetzt bei uns an der Schule. Zumindest habe ich das so gehört.", zischt mir Anke, meine Sitznachbarin zu. Sie ist bekannt dafür, jedes Detail des Privatlebens jedes Schülers zu wissen. Wenn man irgendwas wissen will, geht man stehts zu Anke und sie gibt einem die notwendigen Informationen. Weil alles, was sie gesagt hatte, bis jetzt immer wahr war, glaube ich auch nicht, dass es dieses Mal nicht stimmt. 

Ich reiße die Augen auf. Klingt echt nicht nach einer schönen Vergangenheit. Sie tut mir sofort leid. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mein Vater mich vergewaltigen würde, aber ich schaffe es nicht. Es muss unglaublich schwer für Yuna gewesen sein. 

"Ich kann selbstverständlich vorstellen." Yuna lächelt freundlich. Sie scheint total nett, offen und freundlich zu sein. Echt krass, dass sie sich so verhalten kann, wenn sie so etwas schweres hinter sich hat. 

"Dann leg' gerne los, Yuna." 

Sie geht nach vorne und räuspert sich. Dann beginnt sie ihren Text vorzutragen. "Liebe ist das schönste Gefühl der Welt. Wie eine riesige Hand trägt sie dich und du fühlst dich, als könntest du fliegen. Liebe ist Freiheit, Vertrauen und Glück. Wie ein Engel fliegst du durch die Luft. Fühlst dich frei, schwerelos. Als könntest du fliegen. Doch wenn dich die Realität einholt, kann sich alles verändern. Wie ein Donnerschlag, die riesige Hand hat die fallen gelassen. Du fällst nach unten, Meter für Meter, bis du auf den Boden aufprallst. Wie ein harter Schlag, zurück in die Welt geholt. Liebe ist nicht immer perfekt. Liebe ist genauso Trauer, Wut und Verzweiflung. Wie ein Trampolin, immer wieder bist du oben, fühlst dich frei und schwerelos, doch dann kommt der Fall und der Aufprall. Liebe ist nicht perfekt. Liebe ist nur eine große, traurige Lüge. Doch du kannst sie perfekt machen. Wenn du alles aufgibst und dich nur diesem Menschen hingibst, den du so sehr magst, kann sie toll sein. Perfekt. Liebe ist nur ein Spiel. Und dieses Spiel spielst du immer und immer wieder. Tag für Tag. Woche für Woche. Jahr für Jahr. Liebe ist mehr, als es Worte jemals beschreiben können. Aber wenn du es einmal gefühlt hast, dann wirst du dieses Gefühl niemals vergessen. Das Fliegen und Fallen. Das Trampolin Springen. Das schönste Gefühl der Welt."

Es war still geworden, schon nachdem Yuna den ersten Satz vorgetragen hatte. Jetzt, als sie ihren Aufsatz beendet hat, breitet sich ein Jubeln und Klatschen im ganzen Raum aus. Yuna lächelt verlegen. Ich sehe, wie sich ihre Wangen rosa färben. Sie sieht gut aus. Wunderschön. Ich frage mich die ganze Zeit, über welche Person sie schreibt. Vielleicht den Jungen, mit dem sie gestern im Selbstlernzentrum war? Oder doch jemand ganz anderes. 

"Wow, Yuna. Das war... der Wahnsinn. Ethan, nehmen Sie sich doch bitte ein Beispiel an ihrer Mitschülerin. Yuna ist zwar erst seit gestern an dieser Schule, aber hat bereits einen wunderbaren Aufsatz formuliert, wie ich ihn von Ihnen noch nie gehört habe." Ethan grinst immer noch nur und verdreht die Augen. 

"Wissen Sie.", setzt er an. "Ich wollte mit meinem Aufsatz eigentlich nur zeigen, dass Liebe spontan ist. Nicht planbar. Man muss einfach alles auf sich zukommen lassen. Man kann vorher nichts planen und selbst wenn, es wird immer anders laufen."

"Sehr interessant, Ethan. Vielleicht können Sie das dann ja nächstes Mal genau so schreiben?"

"Pff.", erwidert Ethan daraufhin nur. 

"Sie dürfen sich wieder setzen, Yuna.", wendet sich Frau Müller an Yuna. Sie lächelt noch immer freundlich. Als sie zurück auf ihren Platz läuft, treffen sich unsere Blicke. Nur ganz kurz, aber sie treffen sich. Ich spüre, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitet. Ich kann es nicht verhindern. Und Yuna erwidert es. Ihr Lächeln erweitert sich ein Stück. Es gilt mir. Es gilt wirklich mir. Ich kann nichts dagegen tun, das Lächeln verschwindet einfach nicht mehr. Die ganze Stunde sitze ich grinsend auf meinem Platz. Ich glaube, ich habe noch nie so gut und motiviert mitgearbeitet. 


Anmerkung von dem*der Autor*in: 

Über wen Yuna da wohl geschrieben hat ;) Was sagt ihr dazu? Findet ihr Yuna sympathisch? Und denkt ihr, dass Marie mit ihr vielleicht ihre ✨Liebe des Lebens✨ gefunden hat? 

Schreibt mir gerne einen Kommentar und lasst einen Like da! 

Butterflies - The Same Game Again  (DEUTSCH)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt