Intervall 01-05

1 0 0
                                    

Die Sprengung der Ketten

Der Hauptmann ließ den schwarzen Köter in Ketten legen und an einen Balken eines seiner schweren Skorpione binden. Zu gerne hätte er ihm stattdessen das Schwert zwischen die Rippen gestoßen, doch wenn es sich wirklich um einen, von Ventu ausgesandten, Mann handelte, dann lag es leider nicht in seinen Händen, diesen hinzurichten.

Am zweiten Tage, nachdem sie aus dem Geisterdorf aufgebrochen waren und neuerlich eine schier endlose Strecke an Ödland durchwandert hatten, erblickten die Wanderer in der Ferne eine riesige Schlucht, die mit jeder viertel Meile, die sie sich ihr näherten, um ihre zehnfache Größe anzuwachsen schien. Sie erstreckte sich zu beiden Seiten in die ewige Ferne und wirkte beinahe so, als stelle sie das Ende der Welt dar.

„Geht immer geradeaus", hatte Ventu ihnen gesagt, bevor sie aufgebrochen waren, „und ihr werdet finden, was ihr suchet."

Ihm scheint hoffentlich klar zu sein, dass ein Geradeaus angesichts dieses schwarzen Schlunds nicht mehr möglich ist, zumindest hoffe ich das doch inständig.

Er schickte seine beiden Vorhut-Trupps los, zu beiden Seiten, einen Weg über oder durch die Schlucht zu finden. Währenddessen schlugen sie ihr Nachtlager auf. Die Stimmung unter seinen Männern war mies. Von ihrer anfänglich kollektiven Freude war kaum mehr etwas übriggeblieben. Für ihre Wasservorräte, mittlerweile zur Hälfte zusammengeschrumpft, ließ sich nirgendwo in diesem verfluchten Land auch nur ein Rinnsal finden, um ihre Fässer und Schläuche wieder befüllen zu können. Wo kein Wasser, da auch kein Fisch zu fangen. Nicht einmal Wild zum Jagen oder Vögel zum Schießen gab es hier. Einzig die, fast vollständig hinter dem Horizont verschwundene, Sonne erinnerte noch an daheim, an die weißen Lande.

Vielleicht sollte er den gefangenen Köter um Hilfe bitten. Ventus Diener mochten keine derart mächtigen Zauberer sein, wie ihr Meister, doch auch sie waren in den Künsten der Magie bewandert. Aber nein, er war kein Bittsteller. Als Hauptmann würde er ihm befehlen, mit einem seiner Zauber etwas zu bewirken. So erhob er sich mit seinem neu gefassten Vorhaben und schritt aus seinem einsamen, prunkvollen Zelt hinaus in den kühlen Nachtwind.

Donnergrollen ertönte derweil über ihrer aller Köpfe. Ein Regentropfen landete auf dem Gesicht des Hauptmannes. Ein Grinsen zeichnete sich in ebendieses.

Schau genau hin, du Schwachkopf. Das ist kein Regen.

Schwarz prasselten die Tropfen auf sein gehärtetes Lederwams, auf seine Stiefel, seine Arme und Hände, zeichneten schmale Spuren auf jede Oberfläche, auf die sie trafen und färbten das Nachtlager in ein tiefes Schwarz. Sein Grinsen war erstorben.

Ist es Tinte, die da aus dem dunklen Himmel tropft? Wie kann der Regen Tinte sein?

Ein Fluch. Hatte der schwarze Köter es tatsächlich gewagt, sie zu verfluchen? Welch ein Lügner. Er hatte sofort gewusst, dass er ein Lügner war. Er riss sein Schwert aus der Scheide. Dafür konnte, dafür würde er ihn töten. Es donnerte erneut. Das, sich ausbreitende, Gemurmel im Lager, vermischte sich mit dem Prasseln des Regens. Mittlerweile war selbst der letzte der Wanderer auf den Beinen und sah dem schwarzen Regen mit Verwunderung oder Zorn entgegen.

Plötzlich wurde es hell. Ein Blitz zuckte aus der schwarzen Masse am Himmel und traf den riesigen Rammbock, der von dreißig Unerschrockenen gezogen wurde und sofort in Flammen aufging. Panisches Geschrei entbrannte, als das Feuer nicht nur die angeketteten Zugmänner umhüllte, sondern auch in Windeseile auf die umstehenden Zelte übergriff.

Ein weiterer Blitz zerfetzte ein Katapult. Noch mehr Feuer, noch mehr Schreie. Der Hauptmann musste zur Seite springen, damit ein durchgehender Gaul ihn nicht unter sich begraben konnte. Während die Tiere die Flucht ergriffen, versuchten seine Männer die Flammen zu löschen. Einer ihrer Wägen mit Fässern voller Trinkwasser kippte daraufhin um und das kostbare Nass überschwemmte und erlosch unzählige ihrer Feuerstellen. „Nein, nein, nein", rief der Hauptmann wütend aus. Sein eigenes Zelt stand mittlerweile ebenfalls in Flammen.

Noch ein Blitz und noch einer zerrissen weiteres Kriegsgerät. Einige der Unerschrockenen hatten sich von ihren Fesseln gelöst, versuchten ebenfalls aus dem lichterloh brennenden Nachtlager zu fliehen. „Tötet sie. Tötet die Flüchtigen", schrie der Hauptmann, doch seine Stimme ging in dem Lärm und Chaos unter, wie der Gesang eines Spatzes in einem Gewittersturm. Die Prinzessin, ihr Auftrag – seine Ehre, seine Glorie. Alles stand plötzlich in Flammen. Er erhob sein Schwert und hackte mit einem Hieb einen Unerschrockenen in zwei Teile, der so töricht gewesen war, brennend in seine Richtung zu rennen.

„Zauberer", schrie er aus voller Kehle, voller Wut und Zorn.

Das wird dir nicht helfen. Versteh' das doch, du Spatzenhirn. Verschwinde endlich von hier. Nimm deine verfluchten Beine in die Hand und lauf. Er lief, dieser Blödhammel – jedoch in die falsche Richtung.

Sein Laufschritt durch Regen, Feuer, Blut und Irrsinn endete, als ein neuerlicher Blitz, heftiger als alle seine Vorgänger, von ohrenbetäubendem Knall begleitet, in der Nähe der Schlucht niederging und die Erde bis in ihr Lager hinein aufriss, als handele es sich lediglich um ein dünnes Stück Pergament. Der schwarze Spalt tat sich hungrig auf und verschlang Mann um Mann, Zelt um Zelt, bis schließlich sogar das brennende Katapult und der halb zusammengekrachte Rammbock in der ewigen Dunkelheit verschwanden. Das Skorpion, an dem der schwarze Köter angekettet war, stand einzig noch nicht in Flammen in diesem Meer aus Feuer, dass einst ihr Nachtlager gewesen.

„Die Götter wollen mich doch verscheißern", murmelte er ungläubig, als er alles, was er befehligte, alles, über das er verfügte, dahinschwinden sah.

Als der folgende Blitz schließlich den Hauptmann zerfetzte, fühle ich das Bersten der Ketten. Freiheit. Ich kann sie greifen. In meinen unsichtbaren Händen spüre ich ein Kribbeln. Das Feld des Feuers bleibt hinter mir zurück. Es wird kleiner und kleiner und verschwindet unter meiner körperlosen Existenz. Am Ende wird nichts mehr von den Wanderern bleiben, außer einer traurigen Erinnerung, die ebenso bald sterben wird. Etwas trägt mich hinfort in die Ferne, zieht mich magisch an. Dort sehe ich Männer aus dem Dunkel auftauchen. Darunter ein Fremder, so vertraut wie das Bild, welches ich einst im Spiegel sah. Und so hieß ich ihn herzlich Willkommen. 

Land der SchmetterlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt