Intervall 02-10

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Der Mann aus dem Spiegel

Sanft trugen ihn die Schwingen der Winde, aus dem weißen Licht heraus, zurück in die graue Tristesse. Wie auf Daunen gebettet erwachte er an einem seltsamen Ort. „Ist das hier Himmel oder Hölle?", formulierte er seinen ersten, klaren Gedanken. Er konnte nicht glauben, dass die Amokfahrt glimpflich für ihn ausgegangen war. Als er sich aufrichtete, durchzog ihn ein Schauer. Das Monster aus seinem Traum. Flammen zierten den Körper des Fremden, der ihn aus dem Schatten heraus anstarrte. Feuer waren seine Augen.

Sein instinktiver Griff an die Brusttasche endete mit neuerlicher Resignation. Zumindest die Frage nach Himmel oder Hölle schien endgültig geklärt. Prompt erinnerte er sich an ihre Worte: „Gott wird auf dich warten."

Die Flammengestalt erhob behutsam den rechten Arm. Sie deutete in die entgegengesetzte Richtung. Nur langsam wandte er den Blick von dem Wesen ab und erlebte einen neuerlichen Schrecken, als er die kopflose Leiche in einer großen, getrockneten Blutlache erspähte. Ein junger, männlicher Körper, wie er kurz darauf erkannte. Neben diesem lag ein blutverschmiertes Pergament. Vorsichtig näherte er sich dem Toten und klaubte den Fetzen Papier vom Boden auf. In schnörkelloser Schrift, mit Tinte geschrieben, stand ein Vers darauf:

Tausend Mal den Tod ich fand' / ehe ich den Spiegel sah

Als ich am End' des Kreises stand' / Gott, er war stets nimmer da

Diesen Ort sie einst verließ in Kummer / Ließ uns zurück, im wachen Schlummer

Oh, du mein Liebchen mein - Miranda

„Miranda?", ihr Name entfachte neue Hoffnung in den Fasern seines Seins.

„Sie ist nicht hier", hallte eine traurige Stimme aus dem Dunkel, „du hast es selbst gelesen. Sie hat diesen Ort vor langer Zeit verlassen." Als die zweite Gestalt ins Licht trat, glaubte er zu träumen. Für einen kurzen Moment war ihm, als starre er in einen Spiegel. Ein fremder Mann, der seine Haut als Kostüm und ein Schwert am Gürtel trug. „Hat man Euch genauso belogen, wie man es mit mir tat?", transportierte die Stimme des Fremden, seine eigene, Enttäuschung und Erschöpfung, vermengt mit bitterem Gram. Das Spiegelbild kramte etwas aus der Tasche seines Wamses. „Meine Pillen. Das sind meine Pillen", dachte er nur. War es deren Abstinenz, welche ihn halluzinieren ließ? „Man sagte mir, Gott würde auf mich warten", erwiderte er und bemerkte erst im Anschluss, wie lächerlich das alles klang. Der fremde Mann lachte ihn folglich aus: „Mit Miranda ging auch Gott. Was zurückblieb war ihr Schatten und eine Herde schlafwandelnder Gestalten, die fortan im Kreise marschieren." Noch mehr kryptisches Gerede? Die fremde Frau hatte ihm erzählt, er solle SIE überzeugen zurückzukehren. Wohin? Und wer war damit gemeint, wenn nicht Miranda? Auch diese Frage artikulierte er. Müde lächelnd senkte sein anderes Ich das Haupt: „Du wirst niemanden zurückholen. Hier ist das Ende des Abgrunds. Ein Ort der Wut und Enttäuschung, an welchem der Durst nach Bestrafung und Rache gestillt wird."

„Dann töte ihn", rief er und zeigte auf das Flammenwesen, welches noch immer regungslos im Halbdunkel lauerte. „Er ist Mirandas Mörder. Ich habe gesehen, wie er sie getötet hat. Nimm dein Schwert und hacke diese Ausgeburt der Hölle in Stücke." Seine Stimme überschlug sich beinahe, während seiner lautstarken Aufforderung. Das Spiegel-Ich jedoch machte keine Anstalten, dieser nachzukommen. Im Gegenteil, es schien mehr und mehr amüsiert. „Ich kann den Splitter Gottes nicht töten. Ihn hier schon." Er deutete auf die kopflose Leiche zwischen ihnen.

„Wer ist das?", wollte er wissen, doch seine Frage traf auf eine Wand aus Nichtbeachtung. „Du hast sie im Kopf. Die Erinnerung an SIE und IHN. Der andere Splitter hat sie dir gegeben. Nur wenn du dich erinnerst, kann der Kreis durchbrochen werden."

Er verstand nicht. Er verstand nicht ein Wort seines Gegenübers. „ERINNERE DICH", schrie ihn das Spiegel-Ich an und schlug ihm unvermittelt mit dem Schaft des Schwertes gegen den Kopf. Nur noch Sterne sehend, taumelte er orientierungslos umher und ging schließlich zu Boden.

Das Bild vor seinen Augen wurde klar. Warme Sonne auf seiner Haut, der Geruch frisch gemähten Grases in seiner Nase. Vogelzwitschern untermalte die Szenerie. „Miranda?" Als sie plötzlich vor ihm stand und ihn mit offenen Armen empfing, schossen tausende Schmetterlinge aus seiner Brust. Unsichtbare Phantome, die er lediglich spürte. Als er realisierte, dass er wie festgewurzelt an jener Stelle verharrte, an der er stand, löste sich ein Schatten aus seiner eigenen Gestalt heraus. Langes schwarzes Haar, so wild wie der Schweif eines Pferdes. Er erkannte ihn sofort. Nicht mehr diese alte Gestalt mit den Haaren aus Spinnenweben und den leeren, toten Augen. Neil stand in voller Blüte, als er seiner Miranda einen Kuss von den Lippen stahl. Sein Herz zerbrach in noch kleinere Splitter. Wenn er nur hätte verhindern können, dass diese Liaison zustande käme, wenn er sie nur für sich allein hätte haben können. Unweigerlich erinnerte er sich an seinen vergangenen Traum, als Neil Mirandas Babysitter mimen musste. Als der Strom ausging, kam der langhaarige Affe durch das dunkle Haus gestolpert und erstarrte vor Angst, als er ihn anblickte. Er konnte Mirandas Haar riechen, ihren warmen Leib in seinen Armen spüren. Ein schmerzhafter Strom, wie Feuer, durchfuhr seinen Arm, in dessen Hand er das Messer hielt, mit dem er seiner geliebten, besten Freundin in den Hals stach. Nur ein kleiner Spritzer Blut rann über seine Finger, ehe sich das Mädchen in einem Schwall von Schmetterlingen auflöste. „Nein. NEIN!"

Als er wieder zu sich kam, bebte sein Körper. Ungläubig über seine eigene Tat war er kaum mehr in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Ein dunkles Loch klaffte dort, wo einst sein Herz gewesen. Maden krochen unter seiner Haut auf und ab, schnitten und peinigten ihn von innen heraus. Wankend hievte er sich auf seine beiden Beine hoch. „Du warst das", nuschelte er in die heiße Luft dieser hässlichen Welt, in Richtung des Flammenwesens „du hast sie getötet. Nicht ich war es. Du, du, DU!" Im Nebel nahm er dessen hämisches, beinahe groteskes Lächeln auf den brennenden Lippen wahr. Die Augen des Wesens glühten vor freudiger Erregung. Er würde ihm dieses Lächeln zertrümmern, wusste er. Es war das einzige Ziel, das ihm noch geblieben war. Er ballte die Faust und kaum das er, unter Mühen, zwei Schritte getan hatte, bohrte sich etwas durch seine Brust. Die lange Klinge eines Schwerts glänzte und glitzerte Rot unter ihm. Da riss es ihm den Boden unter den Füßen weg. Er sah seinen einstigen Körper unter sich zusammenbrechen und noch bevor er realisieren konnte, was gerade geschah, trug es ihn in die Ferne davon, in ein Land, das so viel schöner wirkte als alles, was er bislang gesehen hatte. Hinge da nicht dieser schwere Schleier aus Melancholie, der alle Schmetterlinge sterbend gegen Boden rieseln ließ. Was blieb war ein bunter Teppich auf totem Schnee. „Unter dem Schnee, wird sich neues Leben erheben", mahnte er sich beseelt zur Ruhe.

„Das Biest wird sterben", war sein letzter Gedanke und die ersten Worte, die er hörte.

Land der SchmetterlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt