Intervall 02-07

0 0 0
                                    

Eine kleine Geschichte über das Nichtsein

Er war überzeugt, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, in der jungen Bibliothekarin, Miranda wiedererkannt zu haben. Doch wie immer, wenn er dies glaubte, war er auch dieses Mal einem Streich seiner eigenen Sinne aufgesessen. „Zu welchem Buch gehört das?", frug er und überreichte ihr die schmutzige Seite, die er auf dem Gelände des ehemaligen Motorradclubs gefunden hatte.

„...und der brennende Dämon, der Drache in Menschengestalt, stieg aus dem Spiegel", rezitierte sie aus dem, ihr vorliegenden, Text, „wenngleich er mich mit seinem Antlitz zu täuschen glaubte. Ich erhob meine Fäuste und stellte mich ihm. Was hatte ich noch zu verlieren?"

Für einen kurzen Moment schien sie angestrengt zu überlegen, dann schnippte sie erleuchtet mit Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand.

„Im Land des Drachen", teilte sie fröhlich ihre Erkenntnis mit ihm, „ein Buch über eine Prinzessin, die von einem Drachen entführt wird und die daraufhin von einem waghalsigen jungen Burschen gerettet werden soll. Keine hohe Literatur, gewiss. Es ist mehr ein Buch für Jugendliche."

„Können Sie mir sagen, wer sich das Werk zuletzt ausgeliehen hat?"

„Das darf ich Ihnen aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht mitteilen, aber Sie können es sich gerne ausleihen. Vorletzter Gang, linke Seite bei den Fantasy-Romanen."

Er fand das Buch auf Anhieb inzwischen all den anderen Schinken. Ein dicker, alter Schmöker mit rissigem, blauem Einband. Nicht gerade das, was er von einem Vertreter der Jugendliteratur erwartet hätte. Zurück in seinem Hotelzimmer begann er mit seiner Lektüre. Der Drache in Menschengestalt. Eine Beschreibung, die auf die Person passte, welche er suchte. Das konnte kein Zufall sein. Hatte sich Mirandas und des Rose-Blvd-Mädchens Entführer einst von dieser Geschichte, die er in Händen hielt, inspirieren lassen? Barg diese Hinweise, die ihn, in irgendeiner Weise, weiterbringen würden? Zunächst war davon nicht viel zu lesen. Ein wenig unbeholfen schilderte der, nicht genannte Autor, von einem Jungen, der eine Prinzessin kennenlernt, die sich unerkannt unter das einfache Volk gemischt hat. Diese wird eines Tages von einem Drachen entführt. Ein blinder Gelehrter schickt den Jungen schließlich hinter die gefährlichen Landesgrenzen, wo er das Biest besiegen soll. An dieser Stelle wurde die Erzählung wirr und unübersichtlich und endete abrupt darin, dass der Junge aus Angst dem Wahnsinn verfällt. Dazwischen fehlten einige Seiten, wie er verwundert feststellen musste.

Trotz dessen entschied er sich weiterzublättern. Da bemerkte er, dass die Geschichte plötzlich von neuem begann und dabei die Perspektive wechselte. Hin zu einem Mann, der mit hunderten Soldaten hinter die Landesgrenze zog. Dort wird die Heerschar von einem Unwetter dezimiert, der Protagonist und drei seiner Kameraden können sich in Sicherheit wiegen, bis sie von anderen Soldaten, vermeintlichen Deserteuren, getötet werden. Auch hier fehlten am Ende Seiten und auch an diese Geschichte schloss sich eine weitere an und noch eine und noch eine. Alle hatten sie gemein, dass jemand das literarische Ende buchstäblich entfernt hatte. Als vor seinem kleinen Fenster bereits der Morgen zu grauen begann und er das Buch bereits zur Seite werfen wollte, da entdeckte er etwas Handschriftliches auf dem kargen Buchrücken. Winzig klein und kaum auffällig.

Die anderen Bücher werden dir Aufschluss bringen.

Das war seine Handschrift. Wann hatte er diese Notiz aufgeschrieben? Ihm war klar, dass sein Gedächtnis Ramasuri war, doch so sehr? Krampfhaft versuchte er sich an die Telefonnummer seiner verschwundenen Begleiterin zu erinnern. Er hatte sie schon einmal angerufen. Kurz nachdem er von Neil und dem tätowierten Mann geträumt hatte. Er brauchte jetzt jemandem, der ihm versicherte, dass er nicht verrückt war oder wurde. Daraus wurde jedoch nichts. Als er, nach wenigen Stunden Schlaf, wieder erwachte, war die gewünschte Erinnerung, wie zu erwarten, nicht zurückgekehrt. Es beunruhigte ihn, wenn er daran dachte, wie viele solcher Lücken diese Stadt in sein Hirn gehackt haben mochte, welche er nicht mehr wachzurufen imstande war.

Kaum das die städtische Bücherei ihre Türen wieder geöffnet hatte, fand er sich bereits in der Abteilung für Fantasy-Romane wieder. Welche anderen Bücher konnten gemeint sein? Willkürlich zog er eines aus dem vollgestopften Regal. Es wirkte genauso alt und durch zahlreiche Hände gegangen, wie sein letztes. „Eine kleine Liebesgeschichte" stand auf dem Frontcover geschrieben. Klang für ihn so gar nicht nach Fantasy. Er schlug das Buch auf und fand leere Seiten vor. Er blätterte vorwärts und rückwärts, doch nicht ein einziger Letter war hier abgedruckt. Er klappte das Buch zu, stellte es kopfschüttelnd zurück ins Regal, zog das nächste heraus. Roter Einband, alt und zerfleddert. „Eine kleine Liebesgeschichte", murmelte er, als er den schnörkellosen, gleichnamigen Schriftzug las. Wieder nur leere Seiten, kein Inhalt. Hatte sich hier jemand einen Spaß erlaubt? Waren das die Art Scherze, die gelangweilte Bibliotheksmitarbeiter ihren Kunden spielten? Egal welches Werk er auch in die Hand nahm, alle teilten sie den gleichen Titel und dieselbe Inhaltsleere. Obwohl er ein wenig wütend war, lachte er laut auf. In einer leeren Bibliothek konnte man ruhig auch mal laut lachen.

Er klemmte sich das mitgebrachte „Im Land des Drachen" unter den Arm, um jenes wertlose Druckerzeugnis wieder abzugeben. Der Schalter war gerade unbesetzt, also legte er den Schmöker auf den Tresen nieder und wartete. Beim Eintreten hatte er gar nicht darauf geachtet, ob das Mädchen wieder da war, welches er zunächst für Miranda gehalten hatte. Sie war es.

„Die Idee mit den leeren Büchern ist nicht neu, aber auch nicht schlecht", log er und lächelte, erntete jedoch nur ein kaum wahrnehmbares Zucken mit den Augenbrauen.

„Möchten Sie das Buch schon wieder zurückgeben?", fragte sie ihn, beinahe erstaunt. Er nickte. „Ja. War nicht wirklich das, wonach ich suchte", erwiderte er, dieses Mal wahrheitsgemäß und zuckte zusammen, als ihm klar wurde, dass etwas mit dem Gesicht seines Gegenübers nicht stimmte. Wie das warme Wachs einer Kerze verschmolzen die Gesichtszüge des Mädchens zu einem einheitlichen, hautfarbenen Brei. „Stimmt etwas nicht?", fragte sie irritiert. Erschrocken wich er zurück und entdeckte, dass es in hier nur so von gesichtslosen Menschen wimmelte, die unbeeindruckt nach Lesestoff stöberten. Ihre Gestalten mochten menschlich wirken, doch ihre Gesichter waren Alpträume.

„Alles gut", antwortete er, schob sich langsam zur Türe hin und tastete bereits nach seinen Pillen.

Land der SchmetterlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt