Intervall 02-06

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Timbre eines anderen Lebens

Taumelte er oder war sein Schritt fest und zielgerichtet? Unzählige Fragen wirbelten durch den Gedankenstrudel in seinem Kopf und ließen ihn selten und wenn, dann nur für einen kurzen Augenblick, klare Gedanken fassen.

Nachdem er das Tattoostudio betreten hatte, war seine Begleiterin wie vom Erdboden verschwunden. Dies war auch einer der Gründe, weshalb sich die Fragen in seinem Kopf noch einmal gemehrt hatten. Wie ein Geist war das fremde Mädchen gestern in sein Leben geschwebt und hatte die Hoffnung in ihm genährt, seinen Antworten näher zu kommen als er anfangs zu glauben wagte. Momentan war ihm jedoch, als hämmere er mit Händen aus Papier auf eine eiserne Truhe, welche ihm die Auflösung sämtlicher Knoten verwehrte. Trotz dessen flackerte die hoffnungsvolle Flamme in ihm heller als noch zu Beginn seiner Rückkehr in diesen Moloch von Stadt.

Die längliche Halle mit der sonnengebleichten Holzfassade, den vernagelten Fenstern und der, von einem dicken Laubteppich bedeckten, Veranda, wirkte wie eine Geisterstätte. Wäre es nicht helllichter Tag gewesen, als er diese Lichtung am Rande des Waldes, nördlich der Stadt, aufsuchte, hätte dieser Platz, mit seiner bedrückenden Aura, ihn wohl etwas beunruhigt. „N-O-_-D-C-L-U-B" stand in großen Lettern auf dem Schild über der, von einer schweren Eisenkette verschlossenen, doppelten Eingangstüre. Das „R" war nicht mehr zu sehen. Das Clubheim schien seit Jahren nicht mehr genutzt worden zu sein. Ein Blick in das Innere offenbarte lediglich gähnende Leere. Warum hatte sich der Club gleich noch mal aufgelöst? Vielleicht hätte er die fleischgewordene Litfaßsäule diesbezüglich befragen sollen.

„Könnte man hier jemanden Gefangenhalten?", kam ihm plötzlich in den Sinn. Das Mädchen aus dem Rose Boulevard war schließlich noch immer verschwunden und alle Suchtrupps der Polizei waren nur für sie im Einsatz.

„Dilettanten", dachte er nur, „sie waren es damals schon und sind es heute noch."

Da das ehemalige Clubheim, ob des unebenen Geländes, auf Stelzen stand, musste er sich um eine etwaige Unterkellerung nicht den Kopf zerbrechen. Auch auf der Rückseite des Objekts war, bis auf einige leere, im Dreck liegende, braune Bierflaschen, nichts weiter Auffälliges zu erkennen, was ihn irgendwie ins Grübeln hätte bringen können. Hatte er denn wirklich geglaubt, hier den tätowierten Mann aus seinem wirren Traum zu treffen? Einen Hinweis auf dessen Identität zu entdecken? Wie lächerlich waren solcherlei Gedanken eigentlich? Derartige Dinge funktionierten in Film oder Literatur, scheiterten hingegen regelmäßig in der Realität.

Leiser Gesang, einem Flüstern gleich, drang unvermittelt an seine Ohren. Er hielt inne und begann zu lauschen. Eine Melodie, die er irgendwoher kannte, die jedoch so schnell wieder verging, wie eine leichte Brise, welche ihm ebenso gänsehautbringend über beide Arme gestrichen wäre. Er hätte schwören können, das musikalische Wispern hinter der angrenzenden Böschung vernommen zu haben. Als er sich dieser näherte, war jedoch weder etwas zu sehen noch zu hören, bis erneut Fetzen eines ihm bekannten Liedes seine Ohren umschmeichelten. Eine Melodie, die ihn an Kindheit und Jugend erinnerte und die wohl unter dem Kummer des Erwachsenwerdens verschüttet gegangen war. Er durchschritt die hüfthohen Hecken und wäre beinahe abgerutscht. Der Hang dahinter war steiler als erwartet und führte in eine kleine Sohle hinab, die ihm unwirklich erschien. Sonnenlicht brach durch die dichtstehenden Baumkronen hindurch und tauchte die Welt in goldene Farben. Inmitten jenes kraftvollen Scheins, wie auf einem Präsentierteller, thronte da eine kleine Hütte, die in einer kräftigen, dunkelblauen Farbe strahlte. Eine beinahe hypnotische Erscheinung, welche unweigerlich seinen Blick einfing. War das, was er gerade sah, vorher schon da gewesen?

Sofort war da wieder dieser leise säuselnde Singsang in der Luft präsent. Dieses Mal bekam er Kopfschmerzen davon. Er kramte in seiner Tasche nach dem Pillendöschen, bis er realisierte, dass er derweil einen Fuß vor den anderen setzte. Ein Schritt und ein nächster, ein weiterer und so fort – fest und zielgerichtet. Die Hütte zog ihn an, wie ein übergroßer Magnet.

Er versank förmlich in der Szenerie, die sich für ihn wie ein Gemälde aus längst erloschener Vergangenheit darstellte. Die Farben um ihn herum schienen ineinander zu laufen. Ein Wirbel in der Zeit, der seine Realität aufzufressen begann.

„Wind wafts through your lion's mane. Sun shines outta ya glistening eyes. Don't be afraid, my sweetest o'hearts. Our love won't die like butterflies!"

Seine innere Stimme sang die Zeilen mit, als hätte er nie etwas anderes getan. Ein Schritt und ein weiterer und die Tür der Hütte lag direkt vor ihm. Er streckte seine rechte Hand aus und berührte das Holz. Es war glatt von der Schicht blauer Farbe und fühlte sich warm an, von der einfallenden Sonne. Das heftige Gefühl eines Déjà-vus durchzuckte ihn, als er langsam die angelehnte Türe aufschob. Der Geruch von frischem Holz, von Pfirsichen und grünem Tee schwappte ihm entgegen und dann erblickte er schließlich das Innere der blauen Hütte.

Nußfarbener Parkettboden. Ein Tisch und eine Eckbank. Eine große Kommode, darüber ein Wandregal voller Buchrücken in zahllosen Farben. Eine Vase mit roten und blauen Schnittblumen, eine Schale mit frischen Pfirsichen, ein altes, tragbares Radio. Eine dampfende, blaue Keramikteekanne und zwei leere Tassen.

„Miranda", flüsterte er und die Musik endete.

Er erblickte sie von hinten, sah ihr kastanienbraunes Haar, welches wolkenweich, wie ein ewiger Strom, über ihre Schultern fiel. Als sie sich, offenbar überrascht über sein Kommen, zu ihm herumdrehte, bemerkte er, dass all dies, was er gerade erblickt hatte, nur ein winziges Fragment einer unbedeutend kurzen Zeitspanne war, die abrupt für ihn endete. Ein letztes Beben seines Restverstandes brachte jenes Trugbild zum Zerbersten, welches sich da vor ihm aufgebaut hatte. Noch ehe er ihr Gesicht erblicken konnte, verpuffte ihre Gestalt und tausende bunter Schmetterlinge erfüllten auf einmal den Raum. Ihr Flügelschlagen glich einem Orkan, einem startenden Düsenjet. Wie ein Schwall unkontrollierbarer Energie stürzten sie sich auf ihn. Es warf ihn buchstäblich um, wodurch er derart unsanft auf dem holprigen Waldboden landete, dass es ihn für einen Moment das Bewusstsein kostete.

Als erwieder aufwachte, lag er am Hang hinter der Böschung, wo er zuvor ausgerutschtwar. Das Pochen in seinem Kopf war sofort wieder präsent. Sein Pillendöschenlag neben ihm im Dreck. Er konnte seinen handgeschriebenen Namen auf demkleinen, aufgeklebten Schildchen nicht mehr lesen, da mit brauner Erdeverschmiert. Eilig kramte er eine der roten Pillen hervor und schluckte diese. Erblickte sich um. Eine blaue Hütte war nirgendwo zu sehen. Einzig ein BlattPapier lag zu seinen Füßen. Er klaubte es auf, strich es glatt und las denkleingeschriebenen Text. Es war eine Buchseite. Wohl aus einem, ihmunbekannten, Fantasyroman. 

Land der SchmetterlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt