Intervall 02-03

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Neil oder das, was von ihm übrigblieb

Das Licht der surrenden Neonröhren an der Decke blendete ihn. So sehr, dass er davon Kopfschmerzen bekam, während er durch die hellen, weißgekachelten Gänge, an eisernen Türen zu beiden Seiten vorbei, diesem fremden Mann hinterherjagte. Hatte er zuvor mit ihm gesprochen? Mit ihm oder irgendwem sonst? Er kramte in seiner Hosentasche nach seinem Pillendöschen und fand es dort. Seltsam. Auf dem Etikett stand ein anderer Name als auf dem Namensschildchen, welches locker seinem weißen Kittel anhaftete. Er nahm die rote Pille ein und erhaschte dabei einen Blick auf eine vergitterte Fensterreihe, welche den Blick auf den kleinen Park freigab, der unter dem grauen Regenschleier wie eine traurige, da leergefegte, Ödnis erschien. Jetzt wusste er wieder, wo er war, wenngleich es ihm ein Rätsel bleiben sollte, wie er den Weg in die städtische Nervenheilanstalt gefunden hatte.

„Sie werden dich mit ihm sprechen lassen", hallten ihm ihre Worte in den Ohren. Das grelle Licht brannte ihr fröhliches, vertrautes Lächeln auf seine Netzhaut. War sie etwa auch hier? Hatte sie das alles hier arrangiert? Er spürte seinen Herzschlag und wie er langsam beschleunigte. Für gewöhnlich riefen seine Pillen keine derartigen Symptome hervor.

Sie blieben stehen. „Ihr Schlüssel, Doktor", klang der Mann in der dunkelfarbenen Uniform genervt. Gemeinsam schlossen sie die, durch Panzerglas geschützte, Tür zum Hochsicherheitstrakt auf. Ein weiter endloser Flur folgte, sie bogen zweimal nach links, einmal nach rechts ab. Ihr Marsch endete vor einer blauen Stahltür, die nicht so recht in das eintönige Gesamtbild passen mochte. Ein zweiter Uniformträger, in beigefarbener Montur, schloss zu ihnen auf.

„Ihr wollt zum Kindsmörder?", fragte dieser und packte den Schlüsselbund, der an seinem Gürtel baumelte. Sein uniformiertes Gegenstück nickte wortlos. Kurz darauf war der schwere Stahlkoloss entriegelt und tat sich träge vor ihnen auf. „Wir warten hier draußen, Doktor", bohrte sich die Stimme seines ersten Begleiters unaufhaltsam in seinen Kopf, während er selbst mit einem gemurmelten „Danke" antwortete und schweren, bleiernen Schrittes die kleine, karge Zelle betrat.

Derer Insasse saß auf einem hölzernen Stuhl vor einem vergitterten Fenster, neben einem schlichten Bett, beide Arme auf die Lehnen aufgelegt und starrte in die Leere des Raumes. Sein junges Gesicht verwandelte sich rasch in ein fahles, blasses Abbild dessen, was es einmal gewesen. Eine von der Zeit gepeinigte wie verlachte Karikatur. Die schwarze Mähne war zu weißen Spinnenfäden verkommen, ein Bart wie Watte schmückte seine untere Gesichtshälfte. Neil war um einhundert Jahre gealtert, doch noch immer passten seine Augen, wenn auch mittlerweile leer und glasig, zu der alten, alten Erinnerung, die in der Gegenwart einem fleischgewordenen Schatten gewichen war.

Er hatte diesen Moment herbeigesehnt, doch jetzt wo er gekommen war, wusste er nicht, was er ihm sagen sollte. „Der Mann, der den wahren Täter kennt. Der gesehen hat, was damals passierte", wiederholte er wie ein Mantra in seinem Kopf. An dem Ort, wo ihm plötzlich auch wieder Mirandas Gesicht erschien. Wo er ihr Lachen vernahm, als sei es ihm heute Morgen das letzte Mal zu Ohren gekommen. Dann sah das Gesicht der fremden Frau, die ihn hierhergebracht hatte und zu guter Letzt diese eingefallene, alte Fratze des hochnäsigen Jungen, der sich in einen verdammten Greis verwandelt hatte und keinerlei Anstalten machte, ihn selbst auch nur als anwesend wahrzunehmen.

Er spürte die Blicke der beiden Wachmänner, die sich wie metallene Spitzen in seinen Rücken bohrten. Langsam ging er einige Schritte auf sein unbeweglich dasitzendes Gegenüber zu und beugte sich achtsam zu ihm herunter.

„Neil?", fragte er auf jene Weise, auf der er sich in einem vermeintlich leeren Raum nach einem möglichen Anwesenden erkunden würde. Der Geist im Stuhl blinzelte ihn nicht einmal an. Er lehnte sich weiter nach vorne, bis er Neils Ohr erreichte: „Erzähl mir, was an dem Tag passiert ist, als Miranda verschwand", flüsterte er ihm zu. Belustigtes Murmeln drang aus dem Türrahmen und hüllte ihn in eine benebelnde Wolke.

„Die Pille hätte längst wirken müssen", dachte er währenddessen und friemelte an seinem Hemdskragen herum, um dessen Enge zu lockern.

„Erzähl mir, was an dem Tag geschehen ist", hörte er seine eigene Stimme über sich, hinter sich, neben sich. Ein Echo aus einem ewigen Tunnel kommend, hallte in seinen Ohren. Für einen Moment schien er sich darin zu verlieren.

„Es bringt nichts mit ihm zu sprechen, Doktor. Der Bastard spricht mit niemandem." Das holte ihn zurück in die Gegenwart, die aus surrenden Neonröhren und schmerzhafter Stille bestand. Geschwind fuhr er herum und blickte in die ausdruckslosen Augen der beiden Uniformierten. „Ich brauche die Ratschläge eines dummen Wachmanns nicht. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten und lassen Sie mich meine verdammte Arbeit machen", entfuhr es ihm über eine fremde Zunge. Er konnte die Zornesröte im Gesicht des dunkel Gekleideten aufsteigen sehen. Wutentbrannt stapfte dieser davon, seinen Kollegen in der beigefarbenen Uniform zurücklassend.

Sein weißer Arztkittel wirbelte durch die Luft, als er sich erneut an seinen katatonisch wirkenden Patienten wandte. „Neil, ich weiß, dass du mich hören kannst. Sie nennen dich ‚Kindsmörder', aber ich glaube ihnen nicht. Du musst mir erzählen, was mit Miranda passiert ist. Du bist der Einzige, der die Wahrheit kennt. Hilf mir, Neil. Hilf mir."

Die erhoffte Reaktion auf seine emotionalen Worte blieb jedoch aus. Ihren Namen zu erwähnen, peinigte ihn. Die Wahrheit nicht zu kennen, peinigte ihn noch mehr. Doch die größte Pein war, dass des Rätsels Lösung direkt vor ihm saß. Versteckt hinter einer Wand aus Schädelknochen. Er wusste, dass diese Erinnerung noch in Neils Kopf drinnen war. Doch wie sollte er an sie gelangen, wenn der greise Mann diese nicht artikulieren mochte? Verzweiflung machte sich in ihm breit.

Verschwinde aus meinem Kopf, du Parasit.

Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, verlor er schlagartig den Boden unter seinen Füßen. Als er sich schließlich selbst von oben erblickte, erschrak er, denn dort unter ihm stand ein fremder Mann. Wie in einen Strudel geraten, verschwamm die Welt um ihn herum und er verlor die Orientierung. In seiner Panik versuchte er sich irgendwo festzuhalten. Er verhedderte sich in Spinnenweben und versank letztlich in einem dunklen Loch im Strom der Zeit.

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