Irgendetwas bleibt

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„Schon morgen?"

Überrascht ließ Jan seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen, während er mit Bela telefonierte.

„Wann bist du genau da?"
Dirk stöhnte in den Hörer. Wie Jan wusste, war die Zeitplanung mit Terminen bei dem Schlagzeuger ein spezielles Thema.

„Kommt ganz auf den Straßenverkehr an. Irgendwann zwischen 9 und 11."

„Danke für die konkrete Ansage, Herr Felsenheimer", brummte der Blonde sarkastisch und rollte genervt mit den Augen. Auch wenn Dirk das gar nicht sehen konnte.

„Wie geht's deinem Damenbesuch?", fragte der Schlagzeuger vorsichtig und natürlich nicht ohne Hintergrund, denn trotz der Tatsache, dass sie sich in Sicherheit wogen, wusste Jan nicht, ob die Polizei ihm nicht doch auf den Fersen war.

„Den Umständen entsprechend. Sie schlägt sich tapfer."

„Sag mal, was ist eigentlich mit ihrem Vater? Gibt's da jetzt Kontakt? Der wäre doch eigentlich der erste Ansprechpartner."

Jan zögerte. Eigentlich wollte er Bela nicht Leonies gesamte Lebensgeschichte am Telefon erzählen. Zumal er nicht auf diese Art von Kaffeeklatsch stand. Derartige Fragen hatten ihn schon angestunken, als er noch in der Lüneburger Heide gewohnt hatte und von alteingesessenen Dorfbewohnern mit Fragen konfrontiert wurde, die weit unter der Gürtellinie waren. Letztendlich rückte er dann aber doch zögerlich mit der Wahrheit heraus. Er wusste, dass Dirk eigentlich nicht auf Tratsch und Gerüchte stand und die Frage eher aus Sorge, als aus Neugier gestellt hatte.

„Den kannst du vergessen. Der hat sich das letzte Mal vor 12 Jahren blicken lassen. Der hat sich nie gekümmert und nicht mal Unterhalt gezahlt. Simone musste jeden Cent für Leonie einklagen."

Nur kurz nachdem Jan die Worte beendet hatte, sah er einen Schatten durch die Milchglasscheibe der Tür huschen. Er räusperte sich erschrocken. Offenbar hatte sein Ziehkind heimlich gelauscht.
Zunächst stammelte er nervös herum. Natürlich kannte Bela seinen Kumpel zu intensiv und zu lange um zu wissen, dass die Anspannung einen Grund hatte.

„Dirk, ich kann dir das jetzt nicht am Telefon erklären."

„Hat sie mitgehört?", fragte Bela und merkte Sekunden später selbst, wie dämlich die Frage war.

„Ja", brummte Jan und fühlte sich dabei ziemlich bescheuert, auch wenn er das nicht herauskehren ließ.

„Wir reden morgen darüber. Also, bis später."

Dann hatte er aufgelegt.

Mittlerweile war Leonie in ihrem Zimmer verschwunden. Das Mädchen kannte den Schlagzeuger. Die zwei hatten sich immer sehr gut verstanden. Trotzdem fühlte sich Jan irgendwie schuldig, weil er über seine Stieftochter gequatscht hatte und dabei aufgeflogen war.

Natürlich kannte Dirk Simones Geschichte in allen Einzelheiten. Er wusste, wie sie und Farin sich bei einem Interview kennengelernt hatten, dass sie an Depressionen litt und Mutter einer Tochter im Teenageralter war.

Genauso wie er wusste, dass diese Tochter nach dem Suizid ihrer Mutter von einem Freigang in der Psychiatrie abgehauen war und in einer Nacht und Nebelaktion Jan angerufen und ihn unter Tränen angefleht hatte, vorübergehend bei ihm unterzutauchen.
Dass aus dem vorübergehenden Abtauchen mittlerweile drei Monate geworden waren, hatte natürlich niemand kommen sehen.
Es schien ein bisschen wie eine stillschweigende Vereinbarung. Die zwei Musiker wussten davon, aber niemand sagte ein Sterbenswörtchen, während in ganz Berlin und Brandenburg nach Leonie Jeschke gefahndet wurde.

Trotz aller gesetzlichen Verstöße waren sich die zwei Bandmitglieder sicher. Vermutlich ging es ihr hier, am Stadtrand von Berlin, besser als in jeder Pflegefamilie oder psychiatrischen Anstalt, für deren Aufenthalt es keine Rechtfertigung gab.
Jan legte den Hörer auf die Basisstation und fuhr sich genervt durch die Haare. Normalerweise war er ziemlich pragmatisch, aber seit dem Suizid seiner Freundin war sein Pragmatismus baden gegangen.

Plötzlich fühlte sich überhaupt nichts mehr normal an. Die Tatsache, dass er es war, der seine Lebensgefährtin gefunden hatte, machte die Sache nicht besser. Ganz im Gegenteil.
Insgeheim fühlte er sich schuldig, ihre Situation nicht ernst genommen zu haben. Schlecht drauf war immerhin jeder Mal.

Wo lagen da die Grenzen zwischen Normalität und Krankheit? Immerhin hatten sie ja auch schöne Momente gehabt. Sie waren durch Südamerika und Japan gereist, hatten unendlich lange Spaziergänge mit Artemis gemacht, gemeinsam Sonnenaufgänge bewundert oder Gitarre gespielt.
Er hatte sie selten weinen sehen. Vielleicht zwei oder drei Mal, aber das schien nicht ungewöhnlich für eine Frau. Das hatten seine anderen Freundinnen auch getan. Traurigkeit war kein Indikator für eine derartige Erkrankung. Immerhin hatten Frauen ohnehin einen höhere Oxytocinausstoß, oder etwa nicht?

Vor der Küchenzeile stehend, ließ er innerlich die letzten Monate Revue passieren und fragte sich zum gefühlt tausendsten Mal, ob es Anzeichen für den Suizid gab, den er nicht hatte kommen sehen. War er zu egoistisch? Zu sehr auf sich selbst fixiert gewesen? Hatte er nur sich gesehen?

„Depressive leben in einer Art Glaskuppel. Sie sind gefühlsarm, weil sie krank sind und das hat nichts mit fehlender Liebe oder Egoismus zu tun", hallte einer der Sätze in einer wissenschaftlichen Zeitung wieder, deren Artikel er Tag für Tag ausschnitt und sammelte, um sein Gewissen zu entlasten. Zumindest war das der Tenor laut Wissenschaft. Oder redete er sich die Sache nur damit schön? War das Fassade und er hätte sie rechtzeitig retten können, wenn er sich informiert hätte?
Spätestens ab der folgenden Frage, versagten ihm die Antworten.

Selbst wenn, was hätte er tun sollen? Sie in die Psychiatrie einweisen lassen? Seiner Freundin ins Gewissen reden? Sie zu den Therapiestunden begleiten?
Jan fand keine Antworten auf die Fragen.

Er wusste nur, dass im Nebenraum ein junge Mensch hockte für den das Leben irgendwie weiter gehen musste und für den er gezwungenermaßen Verantwortung übernommen hatte.
In einem Anflug von Wahnsinn hatte er das sichtlich mitgenommene Mädchen kurz entschlossen in sein Haus gelassen und ihr Asyl gewährt, wobei es seit 12 Wochen geblieben war.
Sie hatten den Absprung verpasst. Er, weil er sich schuldig fühlte und seine Gewissensbisse stillen wollte, indem er sich um sie kümmerte, weil er dachte, dass er dass Simone schuldig war und sie, weil die Angst vor der Zukunft ein Teil von ihr schien.

Erst das leise Trappeln des Hundes beförderte Jan zurück in die Gegenwart.
Er hätte nein sagen können, aber dafür war es längst zu spät.

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„Du hast mit Dirk über meinen Vater geredet."
Getroffen blickte Jan auf den Teenager, nickte zögerlich mit dem Kopf.

„Warum hast du eigentlich keine Kinder?"
Spätestens jetzt schlief Farin vollends das Gesicht ein, auch wenn er das großzügig zu überspielen versuchte.
Er hatte an Leonies Bett Platz genommen und obwohl er es gar nicht beabsichtigte, hatte die Situation eine gewisse Vater Tochterdynamik angenommen.

„Danke für das Kompliment, aber mit 41 könnte ich schon Opa sein."

„Ich meins ernst."
Das Mädchen sah ihn herausfordernd an.
Jan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, brachte die folgenden Worte aber sehr zögerlich zur Sprache.

„Hat sich nicht ergeben. Ich wollte lieber reisen und die Welt sehen. Und ein Kind im Tourbus groß werden zu lassen, ist eben nicht so der Bringer."

„Ich wünschte, mein Vater hätte diesen Weitblick auch gehabt. Dann hätte meine Mutter sich nie auf ihn eingelassen."

„Das kannst du so nicht sehen. Er hat immerhin dazu beigetragen, dass du jetzt hier bist."

„Das muss ich jetzt nicht kommentieren, oder?"

Jan blickte nachdenklich vor sich hin, ehe er die folgenden Worte heraus brachte.

„Ich bin auch ohne Vater aufgewachsen."

Leonie sah ungläubig von ihrem Gästebett auf. Bis dato wusste sie wenig über den blonden Freund ihrer Mutter. Sicher war Jan von allen Ex Freunden immer noch am nettesten und sie verstand sich immer gut mit ihm, aber sie kannte nicht seinen gesamten Lebenslauf. Seine Musik war recht passabel, aber sie hörte eher andere Gruppen und Bands aus der Punkrockszene, die vorwiegend aus Amerika stammten.

„Im Ernst?"

Der Blonde bewegte stumm den Kopf nach vorn.

„Mein Erzeuger hat mir aber nie gefehlt. Ich bin trotzdem meinen Weg gegangen."

„Das sagen sie alle. Das ist das Gleiche wie die Rechtfertigung: Ein Klaps hinter die Ohren hat noch keinem geschadet und am Ende sitzen sie doch beim Psychologen. Vielleicht hast du ja deshalb keine Kinder, weil dein Vater sich nicht um dich gekümmert hat."

Jans Lächeln erstarb. Es war ein bisschen so, als ob ihm jemand ein Schwert in die Mitte der Magengrube gerammt hätte, auch wenn er das in diesem Moment ungern zugab.

„Du bist für dein Alter ganz schön frech, weißt du das?"

„Hart aber herzlich", kommentierte sie und wurde dann wieder nachdenklicher.
Auch wenn sie ihrer Mutter nicht ähnlich sah, hatte sie viel von dem dunklen Humor geerbt.

„Wie auch immer. Ich glaube, meine Mom hat dich sehr geliebt", stellte sie mit einem Mal leise fest. Noch weit, bevor Jan in der Lage war, auf ihren vorherigen Kommentar zu reagieren.

„Im Ernst. In den 2 Jahren, in denen ihr zusammen ward, ist sie ganz anders gewesen. Sie hat mehr gelacht, nicht mehr so oft auf der Couch gelegen und vor allen Dingen ist sie nicht mehr ausgerastet."

Bei ihren letzten Worten wurde der Musiker misstrauisch. Er hatte eine böse Vorahnung und Mühe, seine Emotionen unter Kontrolle zu wahren.

„Was meinst du mit ausgerastet?", hakte er nach und registrierte, wie Leonie augenblicklich verstummte.

„Hat sie dich geschlagen?"

Das Mädchen schwieg, wich seinen Blicken aus.

Als Jan längst nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte, bewegte Leonie den Kopf nach vorn.

„Manchmal ist sie ausgerastet. Nicht oft, aber hin und wieder."
Mitleidsvoll blickte der Blonde auf das Mädchen. Die Frau, die er damals kennen und lieben gelernt hatte, wurde ihm immer fremder.

„Aus heutiger Sicht war sie einfach krass überfordert. Da war ne offene Zahnpastatube schon genug, damit sie handgreiflich wurde oder mich angeschrien hat. Deshalb hab ich auch oft mein Ding für mich gemacht. Vorausgesetzt, sie lag nicht depressiv auf der Couch und ich musste den ganzen Haushalt schmeißen. Nachdem sie dich kennengelernt hat, war sie anders. Fast normal. Wie früher, als ich noch klein war. Eure Beziehung hat ihr gut getan."

„Hast du mit jemandem darüber geredet? Ich meine, außer mir?"

Leonie gab ein ironisches Lachen von sich, ehe sie dem Hund gleichbleibend durchs Fell strich, der die Streicheinheit sichtlich genoss. Die zwei hatten eine enge Beziehung, denn Artemis war sehr feinfühlig und anschmiegsam. Genau das, was das Mädchen nach den letzten Wochen dringend brauchte.

„Ist das jetzt ein Witz? Wem sollte ich das denn sagen? Hallo Frau Lehrerin, meine Mutter hat Depressionen. Das hätte doch kein Mensch verstanden. Und selbst wenn. Das Jugendamt kannst du vergessen, Jan. Die machen nichts. Die reden nur. Und wenn sie was machen, dann schleifen sie dich von einer in die nächste Pflegefamilie, weil das Kohle spart."

„Und das hat über Jahre nie jemand bemerkt?"

Leonie verneinte nachdenklich. Auf ihrem Gesicht lag ein gespielt aufgesetztes Lächeln, das zeitweise eher danach aussah, als ob ihr zum Weinen zu Mute war.

Jan wusste, dass das alles nur Fassade war. Aber er wollte diese Fassade nicht brechen. Noch nicht jetzt. Die Wunden verheilten gerade erst und bildeten Narben.

„Meine Lehrer hat das nicht interessiert. Die haben auch nur ihren Job gemacht. Hin und wieder war ja auch alles in Ordnung und ich bin dadurch ziemlich früh selbstständig geworden und hab zeitig gelernt, wie ich im Alltag klar komme. Vom Kindergarten bin ich mit 5 alleine nach Hause gelaufen und den Spüler einzuräumen oder zu kochen und einzukaufen war jetzt auch keine große Aktion. Und in der Grundschule war ich zeitweise oft bei meiner Oma, weil Simone für ihre Presseberichte im Ausland unterwegs gewesen ist. Zumindest bist die gestorben ist."

Leonie wich Jans Blicken aus, unterbrach die Streicheleinheit des Hundes.

„Meine Mutter lag ja jetzt auch nicht 365 Tage im Jahr nur auf der Couch oder hat durchgehend geheult. Das verlief eher in Schüben. Und wenn's soweit war, hat sie eben viel geschlafen und nichts mehr auf die Reihe bekommen, hat ihre Termine abgesagt und dann war erstmal Ebbe."

„In den Tagen bevor sie das gemacht hat. Hast du irgendwas bemerkt? War sie anders als sonst?"
Leonie kämpfte erneut mit den Tränen. Sie winkelte sie Beine an und zog sie eng an den Körper.

„Euphorisch. Besser drauf, irgendwie mit sich im Reinen. Ich hätte alles gedacht, aber nicht, dass sie das macht. Sie war total zufrieden mit sich. Hat mir sogar Pasta gekocht, obwohl sie die eigentlich gar nicht mag."

„Vermutlich, weil sie den Entschluss gefasst hatte und der Druck weg war. Ich hab davon gelesen. Wenn sich Depressive einmal zum Selbstmord entschlossen haben, wirken sie entspannt. Deshalb sollte man laut Fachliteratur eigentlich darauf achten, wenn die Stimmung von melancholisch abrupt in euphorisch kippt. Das weiß ich jetzt. Aber, leider zu spät."

„Sie hat mir nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Zumindest war keiner dort. Sie hat das alles mit sich alleine ausgemacht."

Jan sagte nichts, griff stattdessen nach Leonies Hand und hielt sie fest. Das Mädchen ließ es geschehen. Für mehrere Minuten saßen die zwei nur stumm nebeneinander.

„Das ist nicht fair. Wenn jemand krank ist oder einen Unfall hat und dann stirbt, aber doch nicht so? Das macht mich so verdammt wütend."

„Vielleicht sollten wir aufhören zu versuchen, das zu verstehen", sprach Jan nachdenklich und erhielt Unverständnis.

„Das kann ich aber nicht", wisperte sie leise, während ihr eine einzelne Träne übers Gesicht lief.

„Ich muss immer wieder daran denken, wie sie da steht und zuschneidet oder die Tabletten nimmt. Was hat sie gedacht? Was war ihr letzter Gedanke? Hat sie an dich gedacht oder an mich?"

„Das werden wir nicht erfahren, Leonie", sprach Jan leise und räusperte sich, damit seine Stimme wieder fester klang.

„Ich glaube, du solltest jetzt langsam schlafen. Morgen kommt Bela und wir wollten dich eigentlich mit ins Homestudio nehmen. Da musst du fit sein."

Sie lächelte durch ihre Tränen, kroch dann unter die Decke.

Jan knipste die Nachttischlampe aus und verharrte auf seinem Stuhl.
Widerwillig schloss Leonie schließlich die Augen, ehe sie nur wenige Minuten später vom Schlaf übermannt wurde...

Niemals (Die Ärzte Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt