Scherben

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Als Jan am nächsten Morgen die Küche betrat, ahnte er noch nichts. Nicht, als er zum Briefkasten lief und die Tageszeitung holte und auch nicht, als Leonie auch um zehn nach neun nicht wie gewöhnlich bei ihm am Kaffeetisch saß.

Skeptisch wurde er erst, als der Hund auffallend reagierte und immer wieder mit der Pfote an der Tür des Gästezimmers scharrte. Nach dem 10. Versuch des Vierbeiners eiste er sich dann doch von seinem Stuhl hoch und lief in den Nebenraum. Nur um wenige Minuten später festzustellen, dass sein Ziehkind nicht mehr in seinem Zimmer war.

Fassungslos sah er auf das ungemachte Bett, begann apathisch im Raum umher zu laufen.
Sein Herz begann schneller zu schlagen. Nervös griff er schließlich zum Telefon.

„Dirk?", hauchte er in den Hörer und musste sich aufgrund des leichten Schwindels setzen.

„Sie ist weg."

„Was heißt hier weg?"

„Leonie ist abgehauen, verdammt. Sie ist nicht mehr in ihrem Zimmer."

„Und ihr Rucksack?"

„Ist noch da."

Stille am anderen Ende des Hörers.

„Warte mal. Sie hat doch so komisch reagiert, als du gestern die Ausgangssperre verhängt hast. Wollte sie sich nicht von ihrer Mutter verabschieden?"
Jan fuhr sich angespannt durch die Haare.

„Bist du dir sicher?"

„Wo soll sie denn sonst sein? Pass auf. Ich muss meine Mutter gleich noch vom Arzt abholen, danach komme ich gleich zu dir. Dann fahren wir zusammen nach Weißensee."

„Verdammt, die bringt mich noch in Teufels Küche", grummelte der blonde Hüne, ehe er das Telefongespräch
beendet hatte.

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„Ich kann nicht glauben, dass sie das gemacht hat. Wie kann man nur so dämlich sein? Sie weiß doch, was dabei auf dem Spiel steht. Zumindest dachte ich das bisher", tobte der Blonde, während er neben dem Schlagzeuger durch die Straßen fuhr und sie gezielt auf den Friedhof des Stadtteils zusteuerten. Es hatte die halbe Nacht heftig geregnet und schüttete noch jetzt wie aus Eimern.

Jan wirkte sichtlich aufgebracht. Allmählich wurde ihm die Tragweite seiner Entscheidung die minderjährige Ausreißerin bei sich unterzubringen wieder bewusst. Er hatte sich strafbar gemacht und das mit Sicherheit nicht zu knapp, denn der Sachverhalt würde ihm, für den Fall, dass sie aufflogen, als Entführung Minderjähriger ausgelegt werden.

Die Tatsache, dass Leonie freiwillig bei ihm geblieben war, stand auf einem völlig anderen Blatt. Im Ernstfall musste das erst einmal bewiesen werden und der Fakt, dass er bei der Polizistin eine falsche Aussage gemacht hatte, gestaltete den Sachverhalt nicht besser.
Immerhin war die Tochter seiner verstorbenen Freundin aus der Kinder und Jugendpsychiatrie geflohen.

„Ich muss komplett wahnsinnig geworden sein. Was mache ich hier?", redete Farin lautstark mit sich selbst und schüttelte ungläubig mit dem Kopf.

„Ich hätte sie noch am gleichen Tag zurück bringen müssen."

„Hast du jetzt aber nicht", flüsterte Dirk mit leiser Stimme und starrte verbissen auf die Straße.

„Ach komm, du hängst in der ganzen Geschichte doch genauso mit drinnen. Weißt du eigentlich was wir hier machen? Das ist Wahnsinn? Wir versuchen eine 14 Jährige ins Ausland zu entführen. Mit gefälschten Papieren, Dirk. Ich weiß nicht, was in der letzten Zeit mit uns los ist, aber wir müssen komplett wahnsinnig geworden sein."

„Schlechtes Gewissen", säuselte der Schlagzeuger, während er auf den Parkplatz vor dem Gedenkort hielt.

„Was?"

„Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du kein schlechtes Gewissen hast?"
Farin versuchte so unbescholten wie möglich zu schauen, aber Bela hatte die Taktik längst durchschaut.

„Quatsch, warum sollte ich?"

„Weil du es nicht hast kommen sehen. Genau wie alle anderen. Du hast mit Simone zusammen gelebt und nichts geahnt. Plötzlich steht ihre Tochter vor der Tür, die psychisch völlig am Ende ist und damit das gleiche nicht nochmal passiert und damit du wenigstens etwas kontrollieren kannst und dein schlechtes Gewissen unter Kontrolle bekommst, nimmst du sie bei dir auf."

„Denkst du das wirklich? Dass ich so ein kranker Kontrollfreak bin?"

„Das hat doch nichts mit krank zu tun. Das hätte ich vermutlich genauso gemacht. Die Kleine kann einem ja auch leid tun. Nur hast du eben den Absprung nicht bekommen und wir haben uns immer tiefer in die Scheiße rein geritten."

„Und was ist jetzt dein Vorschlag? Soll ich sie jetzt ans Jugendamt ausliefern, wo sie denen aus Frust brühwarm erzählt, dass sie nach ihrer Flucht aus der Psychiatrie noch wochenlang bei mir gewohnt hat?"

„Soll ich ehrlich sein? Eigentlich müsstest du das. Immerhin hat sie sich nicht an den Deal gehalten und ist entgegen unseres Versprechens abgehauen. Theoretisch. Die Praxis sieht natürlich wieder anders aus."

„Das alles setzt voraus, dass wir sie erstmal finden, ohne dass noch zehn Leute davon Wind bekommen."
Mit düsterer Miene setzte sich Jan nach oben auf, was ihm Dirk kurze Zeit später gleich tat und schwungvoll die Tür seines schwarzen BMWs schloss.

Es regnete noch immer heftig. Wenigstens eine Tatsache, die ihnen sehr zu gute kam, da so weniger Menschen auf Berlins Straßen unterwegs waren.
Im Vorbeigehen verstummten sie, als eine ältere Frau aus dem Friedhofstor trat und sie merkwürdig musterte. Beide grüßten anständig, gingen dann stumm nebeneinander her.

„Hoffen wir mal, dass die nur noch Helene Fischer schaut", flüsterte Bela, als sie sich einige Meter entfernt hatten und ihren Weg fortsetzten.

„Wo Simones Grab ist, weißt du?"
Ertappt sah Jan auf seinen Bandkollegen, stammelte dann vor sich hin.

„Ich hoffe beim Rest ihrer Familie."

„Wie du hoffst? Du willst mir jetzt nicht sagen, dass du nicht einmal weißt, wo sie beerdigt ist."

„Ich war nicht da."
Resignierend schloss Dirk die Augen.

„Na, super."

„Hätte sie auch nicht wieder gebracht. Ich hasse Beerdigungen."

„Nein, Jan das nicht, aber es hätte dafür gesorgt, dass wir jetzt nicht wie zwei begossene Pudel durch den halben Friedhof latschen", fluchte Dirk so laut, dass ein älterer Herr von seinem Regenschirm aufschaute, weshalb der Schlagzeuger sofort verstummte.

„Wenn du dich weiterhin so aufführst, brauchen wir das auch nicht mehr, weil wir dann zwei Straßen weiter im Knast sitzen und hier erst wieder unter der Erde sind", giftete Jan, ehe er mit ruhigerer Stimme fortsetzte.

„Ich kann mich noch ungefähr daran erinnern, wo das Grab ihrer Mutter ist. Ich hab sie einmal zum Todestag begleitet, als sie ein Gesteck abgelegt hat."

Schweigsam liefen die Männer nebeneinander her. Zu ihrer Erleichterung begegneten ihnen keine weiteren Rentner.
Auch wenn die Lage nicht besser werden sollte, denn nur kurz nachdem sie die Stelle erreichten, wurde ihnen klar, dass sie nicht fündig werden sollten.

„Verdammt, sie muss hier irgendwo sein", jammerte Jan, ehe er sich sorgenvoll umsah.
Für einen langen Augenblick ließen beide ihre Gesichter durch die Gegend schweifen, bis Dirk die Hand ausstreckte und ins Gebüsch deutete.

„Schau mal, da. Da liegt jemand."
In die Körper der Männer kam Bewegung, ehe sie ihre Schritte beschleunigten. Jan hatte die Stelle als Erster erreicht und kniete sich nach unten, wo der bewegungslose Körper der 15 Jährigen ruhte. Vor einem Busch lag sie ruhend auf dem Boden.
Dirk tat es ihm gleich, nahm dem Teenager die Whiskeyflasche aus der Hand, die noch deutlich gefüllt aber halb zerbrochen schien. Weitere Folgen bemerkten die Männer sofort, denn an der Hand hatte Leonie eine leicht blutende Wunde.

„Leonie! Leo, wach auf", begann Jan das Mädchen zu schütteln und klopfte ihr kontinuierlich auf die Wangen, bis sie wimmernd die Augen öffnete und ihn müde ansah. Sie war völlig durchnässt.

„Jan", wisperte sie leise und setzte ein trauriges Lächeln auf.

„Ich will bei Mama bleiben", meinte er zu verstehen, ehe sie beinahe wieder in einen Schlaf abdriftete.

„Nichts, da. Mach die Augen auf. Komm schon", gequält öffnete sie die Augenlider, begann dann zu murren. Ihr ganzer Körper war eiskalt.

„Sie ist unterkühlt. Sie muss aus den nassen Sachen raus."

„Zuerst müssen wir sie mal ins Auto bekommen", erkannte Jan das erste Problem und nahm sie halb auf den Arm.

„Leonie, komm schon. Wenn du jetzt nicht mitmachst, dann müssen wir dich ins Krankenhaus bringen und was dann kommt, weißt du."
Letztendlich waren dies die alles entscheidenden Worte, die sie mürrisch zum aufwachen bewegte und dafür sorgte, dass sie sich von beiden wenigstens nach oben hieven ließ, ehe sie unterstützt von Bela und Farin zum Auto gebracht wurde...

Niemals (Die Ärzte Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt