Erinnerungen

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„Ist dir schon was brauchbares eingefallen?", betrat Leonie noch am gleichen Abend Farins Tonstudio im Keller, während der Blonde konzentriert über seinem Diktiergerät hing und nebenbei auf seiner Gitarre jammte. Eigentlich hasste er es, bei der Arbeit unterbrochen zu werden, aber da er die neuen Texte bereits vollständig verschriftlicht hatte, machte er an diesem Tag eine Ausnahme.

„Ich schreibe im Moment keine Texte. Das ist eher allgemeines Brainstorming aus Langeweile."

„Kannst du mir einen von deinen Songs vorspielen?"

„Was willst du denn hören?"

„Deine Schuld? Ich bekomme die Riffs einfach nicht hin."

„Nimm dir da vorne meine Akustikgitarre. Dann spielen wir."
Kurzerhand griff Leonie nach der Klampfe, setzte sich dann Jan gegenüber.
Sie spielten den Song einige Male durch, ergänzten und vervollständigten hier und da, bis Leonie zum ersten Mal seit Tagen strahlend vor dem Blonden saß.

„Danke, das ist echt leichter, als ich dachte. An was arbeitest du gerade?"

„Willst du es hören?"

„Wenn du es mir verraten willst?"

„Ist ein Lied über einen jungen Mann, der obdachlos wird und eigentlich ein total normales Leben hatte, bis er an einem bestimmten Punkt gescheitert ist."
Den Text zu Kein zurück hielt er ihr bewusst vor. Er wollte keine langsam heilenden Wunden aufreißen. Vielleicht ein anderes Mal. Jetzt war er froh, dass sie seit einiger Zeit wieder lachte und sich ablenken konnte.

„Okay, aber das landet hinterher nicht auf irgendwelchen Plattformen im Netz. Der wird nämlich erstmal nicht veröffentlicht"

„Vertraust du mir nicht?"

„Kontrolle ist gut, Vertrauen manchmal besser. Der Song heißt „Ich, am Strand."
Damit begann er die ersten Akkorde, fing dann langsam an zu singen.


Ich, neugeboren, gar nicht süß, aber Mama ist anscheinend zufrieden
Ich mit zwei, was guck' ich fies, meine Eltern sind schon geschieden
Ich mit drei, ich mit vier, Mama und ich alleine hier
Ich mit der Geburtstagstorte, lachend, weil ich's einfach nicht kapier'
Ich mit Opa, kerngesund, ich beim Spielen mit Opas Hund
Ich mit dem Hund im Blumenbeet, ich mit dem Ohr wieder angenäht
Ich im Süden, Sonnenbrand, mein allererster Urlaub
Ich am Strand (ich am Strand)
Und ich am Strand (ich am Strand)
Ich in der Schule, erster Tag, ich mit der Lehrerin, die ich mag
Ich an der Tafel, ABC, erstes Zeugnis ganz ok
Ich zu Besuch im Boxverein, ich mit gebrochenem Nasenbein
Ich, von Pickeln übersät, auf dem Weg zu meinem ersten Date
Ich mit Nina, Hose beult, ich ohne Nina, schwer verheult
Ich beim Kiffen, total cool, ich mit Peter, partyschwul
Ich auf Demo: „Nazis raus!" Ich wieder mal im Krankenhaus
Ich mit Abi in der Hand, ich mit meinem Rucksack
Ich am Strand (ich am Strand)
Und ich am Strand (ich am Strand)
Ich am Strand (ich am Strand)
Und ich am Strand (ich am Strand)
Ich an der Uni, das ging schnell: zehn Semester BWL
Ich mit Abschluss, Freude groß, ich seit einem Jahr arbeitslos
Ich mit Antrag auf Hartz IV, hier setzt mein Vermieter mich vor die Tür
Ich ungewaschen, unrasiert, alles probiert, doch nichts hat funktioniert
Ich unter einer dunklen Brücke, ich, wie ich mich nach Kippen bücke
Ich, wie ich an der Mauer lehne, ich jetzt ohne Schneidezähne
Ich, wie ich im Winter frier', noch einmal seh' ich alles vor mir
Ich als Kind an Mamas Hand, ich mit Nina, glücklich ich am Strand.

Leonies Blick war zum Ende hin immer nachdenklicher geworden. Anfangs hatte sie noch gekichert und jetzt schaute sie fast ein wenig betrübt, zog eine schiefe Grimasse.

„Das ist traurig. Meinst du, das gibt's wirklich?"

„Was?"

„Na, das jemand mit dem Lebenslauf unter der Brücke schlafen muss? Der war am Anfang ja noch total normal und hat sogar studiert."

„Genau das ist ja der Sinn des Liedes. Zu zeigen, dass heute nichts mehr sicher ist und das man ganz schnell abrutschen kann, wenn man an irgendeiner Stelle im Leben Pech hat. Dass jeder Obdachlose irgendwann mal ein normales Leben hatte."

„Vielleicht hätte der auch einfach nicht BWL studieren sollen, sondern irgendwas anderes, womit man besser an Arbeit kommt."

„Meinst du?", fragte Jan fast ein bisschen ironisch lächelnd und sie zuckte mit den Schultern.

„Ist doch ein scheiß Job. Die bescheißen andere nur um Geld. Und das ist stinklangweilig, nur mit Zahlen. Jura wäre sicher besser gewesen oder Medizin. Das wollte ich immer machen, aber dafür wäre mein Durchschnitt zu schlecht. Irgendwas womit man Menschen wirklich helfen kann. Notfalls werde ich Krankenschwester. Und dann gehe ich mit Ärzte ohne Grenzen ins Ausland. Ich glaube jedenfalls nicht, dass der Sinn des Lebens darin besteht, möglichst viel Geld zu verdienen."

Jan schmunzelt nur, sagte aber nichts.

„Kann ich mir nochmal deinen Bildband über Afrika ausleihen? So zur Einstimmung?"

„Da vorne im Regal. Neben den Reiseführern."
Sie lief in den Flur, kam mit den 2 großen Schobern wieder.

„Wow, die sind schwer."
Sie setzte sich vor ihn, begann interessiert darin zu blättern.

„Das ist echt schön."

„Es wird dir dort gefallen. Es ist immer warm und du kannst in Ruhe die Schule fertig machen, bis du erwachsen bist. Und später Krankenschwester werden", zwinkerte er ihr zu.

„Wie oft kommst du mich besuchen?"

„2 bis 3 Mal im Jahr. Es gibt dort einen guten Freund, der auch deine Mutter kannte. Bei seiner Familie kannst du wohnen. Er kommt ursprünglich aus Deutschland und hat einen 16 jährigen Sohn und eine 13 jährige Tochter."
Sie sah auf das Foto mit einem Beduinen, seufzte dann.

„Warum kannst du nicht da bleiben? Oder du versteckst mich noch länger hier, bis ich erwachsen bin?"
Aber Farin schüttelte entschlossen mit dem Kopf.

„Sieh mal, Leonie. Bei mir würdest du dich nicht weiterentwickeln. Ich bin kein Lehrer und kein Psychologie. Außerdem, was ist das für ein Leben, wenn du nie unbeschwert vor die Tür kannst und immer in der Angst lebst irgendwo gesehen zu werden? Wenn ich mit dir nach Südafrika gehe, würde mich das verdächtig machen."
Widerwillig schlug sie das Buch zu, hob und senkte die Schultern.

„Was willst du meiner Tante morgen sagen?"

„Dass ich mir Sorgen um dich mache und nicht weiß, wo du bist?"

„Na, hoffentlich kannst du gut schauspielern."

„Das ist mein 2. Job, wusstest du das nicht", witzelte er, wurde aber sogleich von ihr unterbrochen.

„Du, Jan?"

„Ja?"

„Du hast doch diesen Beamer zu Hause? Können wir uns später noch auf deiner Großleinwand alte Fotos von Mama ansehen?"

„Bist du dir sicher, dass du schon soweit bist?"

„Na, ja ich würde es gerne probieren. Nur wenn man über sie spricht bleibt die Erinnerung ja indirekt am Leben."

„Wenn du das möchtest, können wir das machen."

Leonie begann sanft zu lächeln.
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„Diese verdammte Technik. Ich sage es ja. Borgen bringt Sorgen. Immer wenn ich dem Felsenheimer mein Equipment leihe, bekomme ich das lädiert zurück", freute sich Farin nach einer Stunde Vorbereitung über seine funktionierende Leinwand, über die in Kürze die digitalisierten Bilder laufen sollten.
Leonie hockte neben ihm auf der Couch. Draußen war alles dunkel und nur die weiße Leinwand leuchtete hell.
Jan griff nach der Fernbedienung und drückte auf Play. Schon kurz darauf tauchte das erste Bild von ihm und Simone auf der riesigen Leinwand auf.

Es zeigte ihn und seine Freundin in Frankreich vor dem Eifelturm. Leonie war nicht dabei gewesen, aber Jan waren die Erinnerungen deutlich präsent.

„Das war unser erster Urlaub. Du hattest noch Schule, aber wir sind einmal quer durch ganz Frankreich gefahren."
Verknallt hatten sie ausgesehen. Damals, aber noch wenig von Simone kannte und die Liebe noch ganz frisch war.

„Was hat dich an ihr besonders fasziniert? Ich meine, du hättest auch jede andere Frau nehmen können."

„Deine Mutter hatte eine wahnsinnige Ausstrahlung und ein warmes Lachen. Wenn die anfing zu lächeln, musste man automatisch mitmachen."
Leonie biss sich tapfer auf die Lippen. Sie merkte, wie die Emotionen in ihr aufkamen, die sie geschickt zu überdecken versuchte. Sie wollte nicht schon wieder vor Jan weinen.

„Hey, wir können das aber auch lassen. Wenn du noch nicht so weit bist."

„Quatsch, ich bin okay", schniefte sie und schnappte nach der Fernbedienung, um weiter zu drücken. Es folgten etliche Bilder von Frankreich, ehe die Szene sowohl Leonie als auch Jan und Simone in Neuseeland zeigte.

„Unsere erste längere Zeit zu dritt. Da warst du 12. Du hattest immer dieses Barbiepferd, das du überall hin schleppen musstest."

„Einmal, da haben wir gezeltet und du hast mir gezeigt, wie man Fisch fängt. Und am Lagerfeuer Gruselgeschichten erzählt. Und Mama hat damals von ihrer Zeit mit den Falken geschwärmt. Sie war mit denen in Dänemark, du in Schweden. Und morgens war ich mit ihr ziemlich früh unterwegs. Da hatten diesen wunderschönen Vogel gesehen. Das haben wir im Urlaub oft gemacht. Wir sind dann ganz früh los, um uns den Sonnenaufgang anzusehen."

Leonie kämpfte mit den Tränen. Sie wollte zum nächsten Bild wechseln, was sich als böser Fehler erwies, denn es zeigte sie mit ihrer Mutter eng umschlungen am Meer.

In diesem Moment waren alle Pläne des Fotoabends über einen Haufen geworfen. Sie verlor jegliche Contenante und die Fassung brach.

Zunächst starrte sie nur stumm, wie zu einer Salzsäule erstarrt auf das Bild, während ihre Hände zu zittern begannen und die Tränen aus ihren Augen liefen.

Leise begann sie zu weinen. Jan sah sie erschrocken an, wechselte zu einem weiteren Bild, das das tobende Meer zeigte, aber es war zu spät.

„Ich kapiere nicht, dass ich sie nie wieder sehe. Das es endgültig ist", schluchzte die 14 Jährige, während der Blonde mit sich rang, wie er am ehesten reagieren sollte.

Letztendlich fasste er sich ein Herz, griff stumm nach ihrem Arm und zog sie an seine Schulter.
Weinend krallte sie sich an ihn, während ihr Körper von Heulkrämpfen geschüttelt wurde.
Doch Jan sagte nichts, war einfach nur da und strich ihr gleichbleibend über den Rücken, bis sie ruhiger wurde.
Nach einigen Minuten löste sie sich verweint von ihm und sah mit verschwommenen Augen auf den Bildschirm.

„Tut mir leid, ich habs versaut", schniefte sie aber der Blonde winkte ab.

„Quatsch, ich hätte wissen müssen, dass das alles noch zu frisch ist. Komm, wir machen es aus", aber sie verneinte vehement mit dem Kopf schüttelnd.

„Nein, lass den Beamer an. Es geht schon wieder."

„Ganz sicher?"
Sie nickte bemüht.

„Es wird doch nicht besser, wenn man die Sache tot schweigt."

„Wenn man dich retraumatisiert aber auch nicht."

„Ich hab sie immerhin nicht gefunden", wisperte sie leise und wechselte erneut das Bild.
Farin wurde sehr still, merkte wie der Kloß in seinem Hals größer wurde, auch wenn er ihn noch verdrängen konnte.
Leonie folgte seinem Blick, presste die Lippen zusammen.

„Sorry, der Kommentar war blöd von mir."

Sie räusperte sich, sah dann auf das nächste Bild.

„Weißt du noch, in diesem Ferienhaus in Italien? Unsere Hausmusik? Auf Töpfen und deiner Gitarre, weil wir kein Schlagzeug hatten?"

Farin musste durch seine Tränen lachen. Das Bild zeigte Simone und Leonie, wie sie auf Töpfen trommelten und ihn zu seinem Gitarrenspiel begleiteten.

Dieses Foto fasste den Abschnitt eines ganzen Zeitraums perfekt zusammen. Für einen kurzen Augenblick fragte sich Jan, wann sie sich so verändert hatte. Hatte die Depression schon immer in ihr geschlummert oder gab es einen Auslöser, von dem er nichts wusste?

War sie in ihrem Job als Journalistin unglücklicher als er immer gedacht hatte?

Niemals (Die Ärzte Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt