"Bist du bereit?" Jace sieht mich fragend an. Er ist in seine graue Robe gehüllt, deren Kapuze sein Gesicht fast vollständig verdeckt. Ich sehe hinter mich und folge mit den Augen dem Waldweg, welcher zu meinem kleinen Versteck zurück führt. Zu dem Ort, der fast zwanzig Jahre lang mein Zuhause gewesen ist. Bevor wir aufgebrochen sind, habe ich mein Bein geschient und meinen Stock an einem Harnisch aus Seilen auf dem Rücken befestigt. Die Seile sind feinsäuberlich aus Mondenbast gedreht und wie ein Muster um meinen Rücken und Oberkörper gebunden, dass sie auch ja nicht verrutschen. Auch das Buch meiner Eltern habe ich mitgenommen. Das kalte Leder schmiegt sich kühl zwischen meine Haut und meinen beigefarbenen Umhang. Nun ist die Höhle verlassen und nur noch meine Decken erinnern daran, dass dort einst jemand gelebt hat.
Entschlossen nicke ich, hake mich bei Jace unter und lasse mich von ihm mitziehen. Bedacht laufen wir durch das Stadttor. Anghara besitzt drei Mauern, die es zu passieren gilt, ehe man die Akademie und den Palast erreicht, die sich beide im innersten Ring befinden. In diesem leben auch alle Magier. Der zweite Stadtring ist das Zuhause für reiche Kaufleute, Ärzte, Schmiede und Lehrer. Hier befinden sich die meisten Zünfte, in denen oft ausgiebig gefeiert wird. Im dritten und somit äußersten Ring leben die Bauern, Schuster, Fischer und Näher. Auch wenn es eine Ständegesellschaft gibt, so sind die Tore in die inneren Ringe immer geöffnet. Alle sind mit ausreichend Medizin und Lebensmitteln, sowie Kleidung versorgt. Dafür sorgt der König. Aus Berichten der Händler weiß ich jedoch, dass es nicht in jeder unserer Provinzen so ist. Viele leiden Hunger oder sterben an Krankheiten, da sich die Magier für etwas besseres halten und sich nicht mit dem niederen Volk abgeben wollen. König Bogar lässt diese Aufstände regelmäßig niederschlagen, doch er scheint zu wissen, was geschieht, wenn ein Krieg zwischen den Magiern und Drachenreitern der anderen Provinzen ausbricht: Viele werden leiden und noch mehr werden sterben.
Kurz vor dem zweiten Ring überprüfe ich ein paar Mal die Schienen an meinem Bein und schaue, dass der Stock auf meinem Rücken richtig sitzt. Wir werden kaum beachtet, jedoch entgeht mir das Flüstern nicht. "Seht nur, der kranke Rabe." Das mulmige Gefühl in meinem Bauch steigt. Jace' packt mich fest am Arm. "Versteck deine Haare", raunt er mir zu, doch ich schüttel den Kopf. "Nein. Ich bin es leid, mich zu verstecken. Ab heute wird es anders sein. Sie sollen mich sehen, so wie ich bin." Er wirft mir einen tadelnden Blick zu, doch ich ignoriere ihn. Wir passieren den Ring der Mittelschicht. Die meisten Gebäude bestehen aus hellbraunen Steinen. An den Türen und Fenstern befinden sich edel geschnitzte Holzbalken, die mit verschiedenen Mustern verziert sind. Sie schienen feinste Handarbeit zu sein. Aus manchen Schenken kommt uns Musik entgegen. "Ich habe mich noch nie so weit in die Stadtmauern hinein bewegt", flüstere ich Jace zu, der angespannt in jeder Ecke nach Feinden Ausschau zu halten scheint.
Er öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, da werden wir grob zur Seite geschubst. Augenblicklich fährt meine Hand zum Stock auf meinem Rücken und Jace lässt seine Hand unter seine Robe gleiten. Ich weiß, dass er dort einen Dolch bei sich trägt. "Passt doch auf, ihr Taugenichtse!", blufft uns ein blondhariger Mann an. Als ich den weißen Umhang sehe, muss ich schlucken. 'Ein Heiler.' Es ist bekannt, dass Heiler nicht nur in der Lage sind, den Körper zu heilen. Sie können ihn auch zerstören. Jace verbeugt sich zähneknirschend. "Tut uns leid. Das wird nicht noch einmal vorkommen." Die blauen Augen des Heilers funkeln und er streicht sich über seinen stoppeligen Bart. Er scheint nicht viel älter als Jace zu sein. Um seinen Hals baumelt ein Amulett mit einem weißen Kristall darin. "Er hat die Ausbildung abgeschlossen. Vielleicht ist er sogar ein Reiter. Wir müssen hier verschwinden", raunt Jace mir zu, jedoch ist es da schon zu spät. Die Faust des Mannes trifft Jace direkt auf die Nase, die hörbar bricht. Stöhnend fast er sich ins Gesicht und zieht im nächsten Augenblick seinen weißen Dolch. "Ah, der Verräter. Wusste ich's doch", höhnt der Heiler und holt erneut aus. Dieses Mal wehre ich den Schlag mit meinem Stock ab, lande einen Treffer in seine Magengegend und ziehe ihm die Beine weg. "Schlag ihn noch ein Mal und du wirst dafür büßen!" Meine Stimme klingt selbstbewusster, als ich erwartet hätte und ich stelle mich mit meinem Stock bewaffnet vor Jace, der sich mittlerweile wieder gefasst hat.
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Drakon - Im Bann der Schattenfesseln
FantasyIm Reich der sieben Sonnen gibt es nur eine Regel: Beschütze es oder stirb. Mit Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahres tritt Aideen der Akademie bei, wo sie sich entscheiden muss, welchen Weg der Magie sie bestreiten möchte: Krieg, Heilung, Alch...