≋ Prolog ≋

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Es gab eine Zeit, da wollte ich so sein wie sie.

Eine Zeit, in der ich dazugehören wollte. Einfach dabei sein, um nichts zu verpassen. Ich wollte sein wie alle anderen.

Vielleicht wie eine der Studentinnen, die in der sengenden Hitze des Spätsommertages zusammen auf der Wiese sitzen. Mein Blick bleibt an ihnen hängen, während ich über den gepflasterten Fußweg zur Schwimmhalle gehe. Im Gegensatz zu mir, die ich wieder einmal in grauer Jogginghose und dem bordeauxroten T-Shirt des Schwimmteams unterwegs bin, tragen sie knappe, angesagte Kleidung.

Sie reden, lachen, tippen auf ihren Handys oder kritzeln etwas in ihre Collegeblöcke. Später werden sie gemeinsam lernen, in die Bibliothek gehen, sich mit Freunden treffen, vielleicht einkaufen oder eine Runde joggen. Den Abend werden sie in einer der zahlreichen Bars rund um den Campus verbringen. Oder auch auf einer der legendären Studentenpartys. Sie werden feiern, tanzen, lachen.

Aber ich bin Schwimmerin. Für solche Dinge bleibt mir keine Zeit.

Ich stehe morgens früher auf als alle anderen, um zu trainieren. Meine Nachmittage verbringe ich nicht mit Freunden oder anderen Studenten, sondern im Schwimmbecken. Abends lerne ich, habe Einzelschwimmstunden oder arbeite als Kellnerin in Billy's Diner.

Ich interessiere mich nicht für den neuesten Klatsch und Tratsch an der Uni, sondern für das, was in der Schwimmerszene passiert. Dafür, wer seine Pflichtzeiten geschwommen ist und wer die neuesten Rekorde aufgestellt hat. Dafür, wer wegen schlechter Leistungen aus dem Team geflogen ist, welche neuen Trainingsmethoden es gibt und wie ich meine Zeiten verbessern kann.

Für alles andere bleibt kein Platz.

Ruckartig löse ich meinen Blick von den Studentinnen, beschleunige meine Schritte und gehe zielstrebig weiter.

Eine dunkelrote Sporttasche mit dem gelben Dreizack-Emblem und der Aufschrift »Sun Devils« hängt über meiner Schulter und wippt bei jedem Schritt gegen meinen Oberschenkel. Meine langen dunkelbraunen Haare sind zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Warum sollte ich mir eine trendige Frisur schneiden lassen, wenn ich sowieso die meiste Zeit des Tages eine Badekappe trage?

Der Duft von frisch gemähtem Gras liegt in der Luft und für einen Moment bedaure ich, dass ich den Rest des Tages im Chlordunst verbringen werde. Andererseits bin ich seit meiner frühesten Kindheit an diesen Geruch gewöhnt. Wahrscheinlich würde ich ihn vermissen, wenn ich ihn auch nur einen Tag lang nicht riechen könnte.

Manchmal überfällt mich noch immer die Angst, etwas zu verpassen. Die Angst, meine ganze Jugend diesem Sport zu opfern, ohne jemals etwas wirklich Großes zu erreichen. Die Angst, mich zu verletzen. Die Angst davor, dass mein Traum vom Erfolg niemals wahr wird. Manchmal, ganz selten, frage ich mich, ob es das alles wert ist.

Den Stress. Den Verzicht. Den Druck. Die Neider. Die Angst zu versagen.

Doch wenn ich aufhören würde, was bliebe dann noch?

Nichts als eine gähnende Leere, die mich verschlingen und allem, was ich bisher geopfert habe, den Sinn nehmen würde.

Schwimmen ist mein Leben.

Trotz der Hitze läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, als sich eine Erinnerung unaufhaltsam vom Rand meines Bewusstseins mitten ins Zentrum schiebt. Die Erinnerung an die zwei Monate im vergangenen Frühjahr, in denen ich anderen Dingen in meinem Leben Raum gegeben habe. Zwei Monate, in denen ich glaubte, eine von ihnen zu sein. In denen ich mir eingebildet habe, dazu zu gehören. In denen ich mich der Illusion hingab, für jemanden wichtig und sogar glücklich zu sein.

Wut, Scham und Enttäuschung versetzen mir einen schmerzhaften Stich in die Brust, der mich nach Luft schnappen lässt.

Diese Zeiten sind vorbei. So ein dummer Fehler wird mir nicht mehr passieren. Nie wieder.

Schwimmen ist das, was ich am besten kann. Das, was mich ausmacht. Meine Erfolge haben mir ein Stipendium an der Arizona State University verschafft und von heute an gehöre ich zu einem der renommiertesten Uni-Schwimmteams des Landes. Das könnte mein Sprungbrett für eine große Karriere als Schwimmerin sein, und dafür werde ich alles tun.

Für die meisten Menschen wäre mein Leben wahrscheinlich zu hart. Für mich ist es das Beste, was ich mir vorstellen kann.

Denn das ist meine Welt. Das bin ich.

Ich werde für mein Ziel kämpfen, mit allem, was ich geben kann. Und nichts und niemand wird mich davon ablenken.

 Und nichts und niemand wird mich davon ablenken

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Tiefe Wasser sind nicht stillWo Geschichten leben. Entdecke jetzt