Ich beuge mich vor, senke den Kopf, meine Fingerspitzen berühren den rauen Belag des Startblocks. Konzentriert starre ich auf die kristallklare Wasseroberfläche, die sich unter den Bewegungen der anderen Schwimmerinnen im Becken leicht kräuselt. Ein letztes Mal sauge ich Luft in meine Lungen und stoße mich kraftvoll ab.
Das Wasser empfängt mich wie einen alten Freund, umschließt mich wie ein Zuhause. Ich tauche ein, gleite unter der Oberfläche entlang und bewege meine Arme und Beine mit kräftigen Schlägen, als ich wieder auftauche.
All die negativen Emotionen, die meine Erinnerungen in mir ausgelöst haben, verwandle ich in Kraft. Ich erhöhe die Schlagzahl, ziehe das Tempo an. Die Wende nach fünfzig Metern gelingt perfekt. Die Geschwindigkeit berauscht mich, sie leert meinen Kopf. Alles, was bleibt, ist der Kampf. Der Kampf gegen den Widerstand, gegen die Atemnot, gegen die Schwere in den Gliedern, gegen die Erschöpfung.
Ich schlage am Beckenrand an. Meine Brust hebt und senkt sich schnell, als ich zu Co-Trainer Matthews aufschaue, der auf seine Stoppuhr blickt und meine Zeit in sein Tablet eingibt.
»Nicht schlecht für den Anfang, Jones. Du kannst jetzt Schluss machen. Chefcoach Bowman will gleich noch ein paar Worte sagen. Da drüben, bei den Sprungtürmen.« Mit einer Kopfbewegung gibt er die Richtung an und wendet seine Aufmerksamkeit dann einer meiner Teamkolleginnen zu.
Ich verlasse das Becken, schnappe mir im Vorbeilaufen mein Handtuch von der Bank und ziehe mir gleichzeitig Badekappe und Schwimmbrille vom Kopf.
Die anderen Neulinge haben sich bereits versammelt, als ich ankomme. Coach Bowmann, dessen von einem grauen Haarkranz gesäumte Halbglatze im Sonnenlicht glänzt, das durch die Fensterfront fällt, lässt seinen Blick kurz über uns gleiten. Dann rückt er seine Lesebrille zurecht, kneift die Augen zusammen und starrt auf sein Klemmbrett. Gebannt folgen unsere Augenpaare jeder seiner Bewegungen, als sei er eine heilige Lichtgestalt und alles, was er tut, eine Offenbarung. Was irgendwie auch stimmt. Schließlich hat er schon drei Olympiasieger trainiert und ist in der Welt des Schwimmsports eine lebende Legende.
»Willkommen im Team!«, dröhnt seine tiefe, nicht unangenehme Stimme durch die Halle. »Ihr seid jetzt Devils! Eure bisherigen Erfolge sind an eurer Highschool vielleicht gefeiert worden, aber hier zählen sie nicht mehr. Ihr fangt bei Null an. Ihr müsst alles geben, was ihr habt. Ihr müsst an eure Grenzen gehen und darüber hinaus. Ihr seid Devils, euer Ziel muss es immer sein, mit den Besten des Landes mithalten zu können. Ja, ihr müsst sie sogar schlagen können! Das Schwimmen muss für euch immer und zu jeder Zeit an erster Stelle stehen. Wer dazu bereit ist, dem bieten wir hier die besten Bedingungen, die sich ein Schwimmer nur wünschen kann. Aber wer nicht durchgehend hundert Prozent gibt, ist bei den Sun Devils fehl am Platz. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.«
Von allen Seiten ist beipflichtendes Gemurmel zu hören, bevor ein zaghafter Applaus einsetzt. Seine Worte finden meine volle Zustimmung. Ich bin absolut bereit, alles zu geben. Alles zu opfern. Alles zu tun, was notwendig ist.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass ich wirklich hier bin. Es fühlt sich unwirklich an. Ich stehe in einem Traum von einem Schwimmbad und trainiere mit einigen der besten Schwimmerinnen des Landes. Vorbilder, die ich bisher nur auf dem Bildschirm im Sportkanal bewundern durfte. Plötzlich schwimmen sie im selben Becken wie ich.
Mein Blick schweift umher und mit großen Augen betrachte ich jedes Detail der gigantischen Schwimmhalle. Alles ist perfekt in Schuss. Kein Vergleich zu dem maroden Schwimmbad meiner Highschool, in dem die Fliesen von den Wänden bröckelten und in den Duschen der Schimmel sprießte. Der Coach hat nicht übertrieben, die Trainingsbedingungen an dieser Uni lassen jedes Schwimmerherz höher schlagen.
Der Höhenflug, auf dem ich lächelnd schwebe, legt eine unsanfte Bruchlandung hin, als die durchdringende Stimme von Coach Bowmann meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtet. »Jones und Reynolds, für euch haben sich die Zeiten für das Einzeltraining nochmal geändert. Die neuen Zeiten findet ihr in der App und auf der Homepage.«
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Tiefe Wasser sind nicht still
Romance⩥ SPORTSROMANCE ⩤ Seit Jahren arbeitet die ehrgeizige Ava Jones nur auf ein einziges Ziel hin: Ihren Lebensunterhalt mit dem Schwimmen verdienen und gleichzeitig ihre Familie unterstützen zu können. Frisch an der Arizona State University muss Ava, a...