Kapitel 5 ≋ In dem ich eine Freundin finde ...

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In einem schwarzen XL-Shirt, schwarzen Plüschsocken an den Füßen und mit wild verwuschelten Haaren erscheint Minnie in der Tür unserer Gemeinschaftsküche. Die schwarzen Ränder unter ihren Augen zeugen davon, dass sie vor dem Schlafengehen keine Lust mehr zum Abschminken hatte. Leicht schwankend bleibt sie stehen, hält sich am Rahmen fest und fixiert mich einen Moment lang mit gerunzelter Stirn. Dann blinzelt sie erstaunt, als hätte sie gerade eine Begegnung der dritten Art.

»Uh, Ohio! Du bist hier?«

»Ja, aber nicht mehr lange. Bist du gerade erst aufgestanden?« Ich werfe einen verdutzten Blick auf meine Smartwatch.

»Ja. Mein Bett sah so aufgewühlt aus, da konnte ich es einfach nicht alleine lassen.«

Ihre Worte entlocken mir ein breites Grinsen. Minnie hat einfach für jede Situation einen passenden Spruch parat. Fast wie der Meeresgott.

Sie schließt die Augen und schnuppert ein paar Mal. »Ich hab Kaffee gerochen ...«

»Willst du welchen?« Ich hebe die Kanne hoch, aus der ich mir gerade etwas von dem heißen schwarzen Gebräu in meine Tasse gegossen habe. In meine Lieblingstasse, die meine kleine Schwester für mich gebastelt und mit dem Schriftzug ›Schwimmen ist mein Leben‹ und einem Delfin bemalt hat. Ich sitze an dem kleinen Küchentisch, der einmal ganz weiß gewesen sein muss, aber inzwischen so viele Schrammen, Macken und Kratzer hat, dass man ihn mit gleichem Recht auch als braun bezeichnen könnte.

Minnie zieht die Augenbrauen hoch und schnüffelt skeptisch. »Ist das echter Kaffee oder irgendein gesunder Ersatzstoff?«

Bei dem Gedanken, wie gut sie mich schon kennt, muss ich schmunzeln. Aber in diesem Punkt irrt sie sich. Auf mein Lebenselixier könnte ich nie verzichten. »Waschechter, schwarzer und ziemlich starker Kaffee.«

»Perfekt! Du hast ja doch ein Laster, Ohio. Macht dich nur noch sympathischer.« Sie schlurft zur Küchenzeile, öffnet eine Schranktür und greift nach einer weißen Tasse in Form eines Totenkopfes, die sie mir hinstreckt. »Danke. Du rettest mir das Leben. Wie spät ist es denn?«, fragt sie, während ich einschenke. Unüberhörbar zieht sie sich einen Stuhl vom Küchentisch. Das scharrende Geräusch, das sie dabei selbst verursacht, lässt sie gequält das Gesicht verziehen.

»Kurz nach zwei. Ging wohl ziemlich lang, gestern?«

»Ja. Na ja, ich war in dieser neuen Rockkneipe mit Livemusik und hab dort so einen schnuckeligen Schlagzeuger kennengelernt. Bin erst heute Morgen gegen sieben nach Hause gekommen.« Bei diesen Worten verklärt sich ihre Miene und ein verträumtes Lächeln bildet sich auf ihren Lippen, während sie abwesend ins Leere starrt.

»Ah, okay. Da war ich schon weg.«

Sie hebt ihre gepiercte Augenbraue und wendet mir ihr Gesicht zu. Ihre Miene ist beinahe entsetzt. »Ja? Wo zum Teufel gehst du denn an einem Samstagmorgen um diese Zeit schon hin?«

Ich zucke mit den Schultern. »Hab mich mit Tessa zum Krafttraining getroffen, danach bin ich in die Bibliothek gegangen und hab eine Weile gelernt. Und gerade hab ich noch eine Stunde mit Mom telefoniert.«

»So wie jeden Samstag.«

»Ja.«

»Wie geht's den beiden Süßen?«

Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich an meine kleinen Geschwister denke. »Ganz gut. Annie hat einen Schwimmwettbewerb gewonnen. Sie ist total stolz darauf und will mir gleich noch ein Foto mit der Medaille schicken. Und Austins Asthma ist in letzter Zeit besser geworden. Seit er bei diesem Spezialisten war, der leider verdammt teuer ist, und diese Medikamente nimmt, die leider auch verdammt teuer sind.«

Tiefe Wasser sind nicht stillWo Geschichten leben. Entdecke jetzt