Kapitel 1

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Aus dem Radio tönt fröhliche Popmusik, meine Mutter und ich haben uns gerade noch Eis geholt und dementsprechend ist meine Laune wirklich ausgesprochen gut. Allerdings kann selbst das nicht das ungute Gefühl vertreiben, was mich seit heute Morgen verfolgt.

Was ist nur los mit mir?

Es sind Pfingstferien und ich habe ausnahmsweise mal nichts zu tun, kein Stress, keine Schule, keine Hausaufgaben, gar nichts. Meine einzige „Verpflichtung" ist ein Verwandtschaftsbesuch, auf den ich mich schon seit Wochen freue.

Um mich abzulenken, schreibe ich eine Nachricht an meine Cousine, dass wir etwas später kommen.
Mama und ich wollen ein paar Tage dortbleiben, damit wir alle zusammen ihren Geburtstag feiern können.

Während meine Mutter lauthals zu Taylor Swift mitsingt, schlage ich mein mitgebrachtes Buch auf und beginne zu lesen.
Ich versinke völlig in der Geschichte und vergesse alles andere um mich herum, doch nach ein paar Minuten tritt meine Mutter unvermittelt auf die Bremse und keucht erschrocken auf.

Nur mit Mühe kann ich einen Aufschrei unterdrücken, als der LKW neben uns auf unsere Spur wechseln will und uns offenbar nicht bemerkt hat.
Sie hupt wie wild und der Fahrer lenkt sofort in die entgegengesetzte Richtung, doch es ist schon zu spät.

Er streift uns und das letzte, was ich höre, ist die Hupe des LKWs, das Kreischen der Bremsen und der entsetzte Aufschrei meiner Mutter, die wie verrückt am Lenkrad dreht. Trotzdem krachen wir mit voller Wucht gegen die Leitplanke und alles um mich herum wird schwarz...

Sehr schwarz.
Ungewöhnlich schwarz.
ZU schwarz.
Warte mal, hier stimmt doch was nicht!

Auf einmal spüre ich, wie ich zurückgerissen werde und rechne instinktiv damit, in der nächsten Sekunde entweder auf dem harten Beton der Straße aufzuprallen, oder von irgendeinem Auto überrollt zu werden.

Auch wenn nichts dergleichen passiert, habe ich immer noch das Gefühl durch die Luft zu fliegen.
Und ich kann nichts anderes sehen, als dieses unwirkliche, undurchdringliche schwarz.

Hilfe? Was passiert hier gerade??
Dann höre ich sie, Geräusche.

Der Aufschrei meiner Mutter, einen Bruchteil einer Sekunde später Taylor Swift aus dem Radio, die Stimme des Eisverkäufers von vorhin, der startende Motor des Autos, alles zieht immer schneller rückwärts an mir vorbei und verschwimmt zu einer kuriosen Geräuschkulisse.

Das Lachen meiner besten Freundin gestern im Freibad, vermischt sich mit der Stimme unserer Lehrerin, die uns schöne Ferien wünscht.

Immer und immer schneller.

Irgendwann kann ich keine einzelnen Sequenzen mehr heraushören, denn alles verschwimmt, nur ein paar besondere Erlebnisse stechen klar und deutlich heraus.

Meine Eltern letztes Jahr, wie sie mir verkünden, dass ich eine Katze bekomme.

Als ich im Urlaub lachend auf einer Brücke über dem Meer stand.

Mein Jubeln, als ich an der Tanzschule aufgenommen wurde, was mittlerweile zwei Jahre her ist.

Silvester vor ein paar Jahren, als die ganze Familie gemeinsam gefeiert hat, mein erster Musical Besuch und so weiter, bis hin zu meiner Einschulung und der Kindergartenzeit.

Ganz abrupt wird es totenstill und so langsam wird es wirklich unheimlich, denn auch nach einer ganzen Weile ändert sich nichts daran.

So etwas durch und durch Tonloses habe ich noch nie zuvor erlebt.

Was ist, wenn das nie wieder aufhört?

Wenn ich bis in alle Ewigkeit in dieser geräuschlosen Dunkelheit gefangen bin und die ganze Zeit das Gefühl habe zurückgerissen zu werden -denn das hat bis jetzt noch nicht aufgehört- und ich nicht sagen könnte ob meine Augen überhaupt offen oder geschlossen sind, dann wäre das... schrecklich?

Anfang vom Ende der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt