Es war hell im Zimmer. Viel zu hell. Hatte ich vergessen, das Rollo herunterzuziehen? Widerwillig schlug ich die Augen auf und blinzelte dann ein paar Mal. Es waren nicht die Sonnenstrahlen und auch nicht der darin in einem warmen Ton aufleuchtende Kleiderschrank oder der grün-blau-gestreifte Läufer vor dem Bett, die mir verrieten, dass etwas nicht stimmte. Es waren die Fensterscheiben, die so klar und durchsichtig waren, dass sie niemals zu einer Wohnung gehören konnten, in der ich lebte.
Von daher: wo war ich? Ich rieb mir mehrmals die Augen und dann glitt mein Blick über die Bettdecke mit kleinen rosafarbenen Karos bis hin zum Fußende des hölzernen Bettrahmens, in dem unsagbar kitschig ein Herz ausgeschnitten war. Fuhr mit den Augen einen hellen Holzfußbuden entlang hin zu einem altmodischen Schreibtisch, dessen zwischendrin taillierte Beine immer schmaler wurden. Der davorstehende Stuhl war von gleicher Machart, hatte Seitenlehnen, die in einem eleganten C ausliefen, und war mit einem flachen Sitzkissen versehen. Gemütlichkeit sah anders aus. Aber egal, dies war nicht meine Wohnung und somit konnte es mir egal sein.
Was aber immer noch nicht erklärte, wo ich nun war. Zu Bett gegangen war ich definitiv zu Hause und der gestrige Alkoholkonsum beim Spieleabend hatte sich in Maßen gehalten. Denn heute hatte ich in den Urlaub fahren wollen... Das musste es sein! Mein Urlaubsort. Wobei – ich rümpfte die Nase – so eine altmodische Ferienwohnung hätte ich mir nie im Leben ausgesucht. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es ja wüsste, wenn ich die Nacht durchgefahren wäre. Offenbar war ich einfach noch nicht ganz wach. Seufzend schloss ich die Augen und spürte unverändert das helle Sonnenlicht hinter meinen geschlossenen Lidern. Ein angenehmer Duft von Tanne drang durch das offenstehende Fenster ins Zimmer und irgendwelche Vögel gaben sich in der Nähe ein zwitscherndes Stelldichein.
Als ich die Augen langsam wieder öffnete, hatte sich leider nichts an dem Anblick im Raum geändert. Es war schon sehr kurios, wo ich offenbar in irgendeiner geistigen Umnachtung gelandet war, aber es musste sich mit Sicherheit um einen Buchungsirrtum handeln. Wie automatisch fuhr meine Hand zu dem Nachtschränkchen neben dem Bett – und blieb mitten in der Luft hängen. Irritiert zog ich sie zurück. Wo war mein Handy? Erneut suchte ich mit meinen Augen den ganzen, relativ kargen Raum ab, der außer Schrank, Bett und Tisch und Stuhl nicht mehr zu bieten hatte, und spürte langsam Panik in mir aufsteigen. Ich war davon nicht abhängig – natürlich nicht! – und konnte anders als meine Kinder auch mal ohne das Gerät sein. Aber jetzt hier irgendwo im Urlaub ohne Handy, das war etwas, worüber ich dann doch nicht nachdenken wollte.
Rasch schob ich die Decke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Irgendwo musste es ja sein, vielleicht war es auf den Boden gerutscht. Die Dielenbretter fühlten sich angenehm unter meinen nackten Füßen an, aber im Moment stand mir nicht der Sinn nach Achtsamkeit. Zunehmend hektischer schritt ich durch das kleine Zimmer, aber das Einzige, was sich außer mir hier noch befand, waren eine kleine schwarze Bibel, ein flaches Büchlein mit offenstehendem Schloss und ein dunkler, mir unbekannter Koffer mit Schnallen um seinen Körper. Ich spürte, wie mir langsam der Schweiß ausbrach, obwohl eine leichte Brise die Gardinenschals am Fenster bewegte. Wenn ich nicht wusste, wo ich hier war, dann würden es sicher auch nicht meine Eltern und Kinder wissen und erreichen konnten sie mich auch nicht. Verdammt! Ich würde irgendwo im Ort ein Telefon suchen müssen. Falls es so etwas überhaupt noch gab. Wie lange hatte ich in Hamburg schon keine Telefonzellen mehr gesehen?
Entschlossen ging ich zum Schrank hinüber und öffnete ihn. Und erstarrte. Was mich auf den Bügeln hängend anlachte, waren alles – Dirndlkleider. Wo, verflucht, waren meine Jeans? Meine T-Shirts? Doch auf dem Regal daneben befanden sich nur noch Blusen. Und Unterwäsche. Von der Art, die meine Tochter als Oma-Wäsche betiteln würde. War hier vielleicht irgendwo eine versteckte Kamera? Argwöhnisch sah ich mich um. Doch alles, was ich gewahrte, war eine Amsel, die draußen auf dem Fensterbrett herumhüpfte und ein unmelodisches Pfeifen von sich gab. Blöder Vogel! Meine Finger umfassten das Longshirt, das ich trug. So würde ich jedenfalls nicht in den Ort gehen können. Ein Seufzer entrang sich meiner Kehle. Gezwungenermaßen würde ich also mit einem Dirndl vorlieb nehmen müssen.
DU LIEST GERADE
Die Entscheidung ( ONC 2024 )
RandomDer Alltag hat Lena Köhler fest im Griff. Ihr Leben spielt sich zwischen Kindern, Job und gelegentlichen Treffen mit Freunden ab, vorhersehbar und durchgeplant. So wie sie es mag Dann kommt der Urlaub, der sie plötzlich nicht nur an einem völlig fal...