Kapitel 16

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Die in meinem Kopf herumwirbelnden Gedanken trieben mich vorwärts. Weiter, nur weiter. Doch die Schönheit der Wegstrecke, die bunten Blumenwiesen, die vorbeiflatternden Schmetterlinge und der würzige Duft nach Tanne fielen hinter dem Kopfkino, das sich in meinem Gehirn abspielte, zurück. Längst hatte ich alles verworfen, was allein aus praktischen Gründen nicht durchführbar war. Dinge, die eine gewisse Entfernung vom Geschehen ermöglichten, aber einfach nicht zu organisieren waren. Hatte außerdem verworfen, was zwar grundsätzlich machbar schien, aber mir ein gewalttätiges Handeln abverlangen würde – ein Strang, den ich einfach nicht besaß.

Denn obwohl ich rational gesehen inzwischen die Notwendigkeit akzeptiert hatte, etwas tun zu müssen, war ich dennoch nicht fähig, nicht einmal in Gedanken, aus der Nähe heraus mit einer Waffe oder ähnlichem zu agieren. Mal ganz abgesehen davon, dass das Ergebnis solch eines Versuches absolut ungewiss wäre. Zwar war ich in Magdalenas Körper jung und auf dem Höhepunkt der körperlichen Fitness, aber dennoch war ein etwa fünfzigjähriger Mann ein unüberwindbares Hindernis, wenn nicht das Überraschungsmoment für einen Erfolg der Tat sorgen würde.

Mit mittlerweile keuchendem Atem stieg ich den steilen Pfad hinauf, zu dessen linker Seite ein Hang tief nach unten abfiel und in einem gefährlich aussehenden Geröllfeld mündete. Ein idealer Ort, um jemanden versehentlich auf eine nie mehr endenwollende Reise zu schicken...

Erschöpft blieb ich stehen und hielt mir die schmerzende Seite. War das wirklich ich, die so abgeklärt über Mord nachdachte? Lena Köhler, die immer pünktlich ihre Rechnungen beglich, brav den Müll trennte und noch nie die Steuerbehörde beschummelt hatte? Was war bloß aus mir geworden...? Aber man sagte ja, dass der Zweck die Mittel heiligte. Und vielleicht musste man manchmal etwas Schlimmes tun, um noch Schlimmeres zu verhindern...

Dennoch war auch diese Idee zum Scheitern verurteilt. Denn niemals würde sich eine Gelegenheit ergeben, mit Hitler einen einsamen Spaziergang in die Berge zu unternehmen. Ungeachtet der Tatsache, dass auch hierbei das Kräfteverhältnis zwischen Mann und Frau alles andere aus ausgewogen wäre.

Letzten Endes gab es daher nur noch eine Möglichkeit...

Meine Stirn und die Nasenspitze glühten und Haarsträhnen klebten an meinen Wangen. Fahrig wischte ich sie beiseite und setzte meinen Weg fort. Ich hatte keine Ahnung, wo ich landen würde, aber ich war zu unruhig, um länger zu verweilen. Es war, als hätten meine skrupellosen Gedanken eine brennende Energie entfacht, die nach Bewegung gierte.

Mit einer Geschwindigkeit, die ich schon lange nicht mehr an den Tag gelegt hatte, schritt ich über Baumwurzeln und herumliegende Gesteinsbrocken, bis auch die letzten Tannen hinter mir zurückfielen. Sie wurden von Kiefergestrüpp abgelöst, das nun meinen Weg säumte, und unverändert wand sich der Pfad hoch und höher, als führe er direkt in den strahlend blauen Himmel.

Und dann überfiel mich erneut die Gedankenflut. Das Wagnis, das ich einzugehen riskierte, wenn ich diesen Gedanken wirklich, wirklich ernsthaft in Erwägung zog. Was, wenn die Tat fehlschlagen würde? Hier gab es keine unabhängigen Richter mehr und keine Berücksichtigung mildernder Umstände. Keine rechtsstaatlich geführten Gefängnisse und keine Haftzeitverkürzung wegen guter Führung. Aber zumindest würde ich durch diese Aktion wieder zurück in meine Zeit reisen, oder? Oder?

Ich schwitzte und wusste nicht, ob es von der körperlichen Anstrengung herrührte oder von der Panik, die sich langsam in meinem Körper auszubreiten begann.

Und dann gab es da natürlich nicht nur mich, sondern auch einen Ehemann, der unweigerlich in den Fokus der Gestapo geraten würde, wenn die Tat schiefging. Ein unschuldiger Ehegatte, der nichts davon wusste, welche Gedanken mich umtrieben. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Verdammt, ich war Lena, nicht Magdalena!
Doch dann war da auch die Familie. Ihre Eltern und Halbgeschwister, die meine Groß- und Urgroßeltern waren. Im besten Fall drohte allen nur eine Vernehmung. Schlimmstenfalls jedoch mehr. Konnte ich das riskieren?

Und was war mit Lu? Wir hatten das ganze letzte Wochenende zusammenverbracht. Eine Zeit, die mir wegen ihr Begrenztheit umso kostbarer erschienen war. Denn inzwischen war er längst wieder auf seiner Lesereise. Würde man trotz unserer Vorsicht herausfinden, dass wir uns nähergekommen waren? Würde man ihm eine Mitschuld anlasten? Und was würde das für seine Karriere bedeuten? Ich sah die Schlagzeile bereits vor mir: unbekannte junge Frau reitet beliebten Schriftsteller ins Verderben.

Entsetzt biss ich mir auf die Lippen und verringerte mein Tempo, erklomm nunmehr langsam die vor mir liegende Bergkuppe. Dachte an die Gründe, die dagegen sprachen, solch ein Himmelfahrtskommando in Angriff zu nehmen. Aber sollte ich nicht wieder in die Gegenwart zurückgelangen, dann war sowieso alles gleichgültig... mit den zukünftigen Schrecken vor Augen war das Leben in den vierziger Jahren einfach nicht lebenswert, Lu hin oder her.

Und sollte nicht das Schicksal von ein paar wenigen Menschen eine untergeordnete Rolle spielen angesichts der Millionen von Toten, die möglicherweise verhindert werden konnten? Die gegenübergestellten Zahlen sprachen für sich und ich spürte schwer die moralische Verantwortung auf mir lasten. Für einen Moment war mir, als bekäme ich keine Luft. Was war, wenn ich nichts tat? Die halbe Menschheit würde ungehindert auf eine Katastrophe zusteuern und die ganze Zeit würde ich mit dem Bewusstsein leben müssen, dass ich nicht einmal versucht hatte, es zu verhindern.

Nach Luft ringend kämpfte ich mich die letzten Meter des steilen Pfades hoch, fasste nach einem großen Felsbrocken an meiner Seite und richtete mich dann langsam auf. Und war überwältigt. Denn die Aussicht, die sich meinen Augen auf einmal offenbarte, war schlichtweg atemberaubend. Ein riesiges Tal in sanften Grüntönen erstreckte sich tief unter mir, zwischendurch geschmückt von einer Reihe dunkler Tannen, klein und unendlich weit entfernt. In der Ferne waren die Ausläufer eines Sees zu erahnen.

Tiefergelegene Teile der Bergwiesen lagen im Schatten der sie einrahmenden Berge. Doch die höheren Lagen waren ein Kaleidoskop aus Licht und Schatten, hervorgerufen vom Spiel der Sonne mit den über den Himmel ziehenden Wolken. Was eben noch hell gewesen war, versank plötzlich in einem dunkelgrünen Anstrich, nur um kurz darauf wieder im Glanz der Sonne zu erstrahlen.

Und dann diese Berge! Ein Meer von fernen, dunklen Bergkämmen kündete von einer Ewigkeit, die stets alles überdauern würde. Die näheren, vor mir aufragenden Bergspitzen präsentierten sich südseitig in einem warmen hellgrauen Ton, der die Schroffheit ihrer steilen Hänge ein wenig abmilderte. Schneefelder hatten sich hier und da gehalten und schimmerten fast gleißend in der sonnigen Helligkeit, die die in der Ferne zu sehende Wolkendecke noch nicht zu trüben vermochte. Die Rückseiten der Berge hingegen verloren sich bereits in dunklen Schattierungen.

Minutenlang stand ich auf dem Gipfel des erklommenen Berges und wagte kaum zu atmen. Im Angesicht dieser Mächtigkeit erschien alles andere klein und bedeutungslos. Ich empfand die Wärme der Sonne auf der bloßen Haut, spürte den festen Stein unter meinen Fingern und vernahm diese erhabene Stille, wie sie nur hoch oben in den Bergen entstehen kann. Und dann wusste ich, was ich zu tun hatte...

Die Entscheidung  ( ONC 2024 )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt